Der Ukrainekrieg – Notwendige Bemerkungen zur Bewegung der Fronten

Die Wertewelten der Kriegsparteien und ihrer Führer

In den nachfolgenden Grafiken sind die Wertewelten nach dem System der Spiral Dynamics für Russland und die Ukraine jeweils als Gesamtheit und im Bezug auf die jeweiligen Präsidenten dargestellt. Die für die Internetabfragen benutzten Sprachen sind – von links nach rechts – russisch, englisch und ukrainisch. Es ergibt sich hieraus eine Matrix, die Vergleiche innerhalb der Zeilen und der Spalten ermöglicht. In den Zeilen ist das Unterscheidungskriterium die jeweilige Landessprache bzw. die Sprache des kämpfenden Nachbarlandes und der englisch sprechenden Menschheit, soweit sie im Internet vertreten ist.

 

Die Ergebnisse haben Aussagekraft für einen nicht genau abgrenzbaren Zeitraum, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass der Konflikt zwischen den Kriegsparteien aufgrund des nahezu 10 Jahre währenden Vorlaufs bis zum voll entfalteten Krieg das Ergebnis erheblich beeinflusst hat.

Ein erster Blick auf die Ergebnisse zeigt wiederkehrende Farbmuster in den Spalten und Zeilen. Die Spalten erfüllen das Kriterium sprachlicher Differenzierung, d. h. in der Sprache sind bereits durch die Kultur des Sprechers und des Hörers vorgefasste Bedeutungen enthalten, die den Sinn des Gesprochenen mitbestimmen. Es ist daher sinnvoll, eine geläufige Sprache zusätzlich zu verwenden, die eine Art Prüffunktion übernimmt. In den als Matrix angeordneten WMem-Profilen übernimmt dies die mittlere Spalte, sie stellt die in englisch ermittelten Ergebnisse dar. Links davon ist das Ergebnis in russisch zu sehen und rechts davon das Ergebnis in ukrainisch. In die vier Zeilen sind die Adressaten der Datenerhebung einsortiert. Von oben nach unten sind dies a) der russische Präsident Putin, b) die russischsprachige Weltgemeinschaft, c) der ukrainische Präsident Selenskyj und d) die ukrainischsprachige Weltgemeinschaft.

In der ersten Zeile sind die Wertewelten des russischen Präsidenten – von links nach rechts – in russisch, englisch und ukrainisch abgebildet. Für die Erhebungen in russisch und englisch keine eindeutige Dominanz von Grün zu sehen, am Eindeutigsten in russisch (60%) und mit deutlichem Abstand (36%) in englisch. Daneben spielen die WMeme Blau und Orange eine bedeutende Rolle, beide gleich stark – sowohl in russisch wie auch in englisch. Diese Konstellation aus Blau, Orange und Grün deutet auf die starke Kontrolle durch Grün, vor allem im Bezug auf Blau – hin. Übertragen in die russischen Gesellschaftsstrukturen kann angenommen werden, dass Grün die exklusiven Gemeinschaften der Oligopole repräsentiert, die den Staat und alle traditionell gewachsenen Ordnungskräfte (Blau) an der Entfaltung hindern und ein Netzwerk privilegierter Gemeinschaften bilden. Diese Sicht kommt besonders stark in der von Alltagserfahrungen geprägten (Insider-) Sicht der Russen selbst zum Tragen, in der zwar die in Rot ausgedrückte Gewalt in vergleichsweise starkem Maß wahrgenommen wird, jedoch nicht die Armut in Beige und das systemische Gelb sowie das holistische Türkis. Diese Wahrnehmungen finden im Unterschied zur russischen Sicht nur in der englischen Sicht statt – die sich aus dem Urteil der englischsprachigen Weltgemeinschaft, u. a. im Ausland lebenden Russen bzw. von den in Russland lebenden Russen mit gehobenem Bildungsniveau stammen. Besonders zu betonen ist der verhältnismässig hohe Anteil von Gelb, der vermutlich zum Teil auf westliches Wunschdenken zurückzuführen ist, der Krmelherrscher handele als Befehlshaber der größten atomaren Streitmacht sehr überlegt und rational und sei deshalb berechenbar. Gerade in diesem Punkt mehren sich in der gegenwärtigen Kriegssituation Zweifel, die durch das Wertebild Putins von der russischen Sprachgemeinschaft genährt werden.

Von besonderem Interesse ist der Blick der ukrainisch sprechenden Weltgemeinschaft auf Putin, da sich hieraus die Chancen für diplomatische Verständigungen zur Konfliktbewältigung ergeben. Hier zeigt sich jedoch ein grundlegend anderes Bild von den Wertewelten, denen Putin unterliegt. In dieser Sichtweise gibt es für Putin nur die Macht des Staates, der zwar in gleichem Maße wie in der englischen Sicht systemisch – also angepasst und rational – handelt, jedoch alle weiteren Quellen für die gesellschaftliche Entwicklung ignoriert. In diesem Zusammenhang ist ein Interview mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj aufschlussreich, das in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ abgedruckt ist. Darin äußert er sich auch zu den geistig-psychischen Unterschieden zwischen Russland und der Ukraine. Bezüglich der geschichtlichen Erfahrung mit dem Krieg zieht er den Vergleich zwischen der Sowjetunion und der Ukraine und überträgt diese Erfahrung des „vaterländischen Kriegs“ auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine: „Der Kreml rechnete nicht damit, dass dieser Krieg ein vaterländischer Krieg für uns sein würde, wie ihn die Sowjetunion gegen Hitler geführt hat. Putins Leute kennen die Ukraine einfach nicht. Aber wir sind so. Wenn die Ukraine bei dir ist, fühlst du dich sicher. Dies ist ein Grundsatz, von dem sich viele im Westen etwas abschauen sollten.“ Auf die Frage, warum er glaube, er sei Putins Staatsfeind Nr. 1 antwortete er: „Das ist seine Art, die Realität wahrzunehmen. Seine Leute sehen kein Volk, wenn sie auf den Staat schauen,“ und führte dies auf Nachfrage aus: „Sie sehen das Staatsoberhaupt, sie sehen Politiker, sie sehen Wirtschaftsbosse. Die Russen hoffen, dass sie alle kaufen oder alle Menschen einschüchtern können. Weil sie aber wissen, dass das bei mir nicht funktionieren wird, drohen sie mir. Das ist einfach zu durchschauen.“ Hierin kommt genau das Bild zum Vorschein, das in Putins Wertewelt der Ukrainer zu sehen ist, mit dem entscheidenden Unterschied, dass Selenskyj von Putins Leuten spricht, wo Putin direkt angesprochen ist. Sein Bild ist darüber hinaus eine Verschränkung der russisch-englischen Sicht, ihrer Oligopole  mit der ukrainischen Sicht und ihrer Beschränkung auf Putin als Verkörperung des Staats. Selenskyj hat also einen Standpunkt, der weder mit der Sicht seines Volkes übereinstimmt, noch der komplexeren Sicht der Weltgemeinschaft und der Russen entspricht. Er macht Putin zum totalitären Herrscher Russlands, der nicht nur die Macht über die staatlichen Apparate, sondern auch über „seine Leute“ hat, wer immer diese auch sein mögen – vermutlich aber eben diese Wirtschaftsbosse, von denen Lesenskyj spricht. Diese Einschätzung verkennt jedoch dass Putin diese Macht nicht hat, sondern von diesen Oligarchen abhängig ist. Die Folge dieser Fehleinschätzung ist die hohe Bedeutung, die Selenskyj dem militärischen Kampf einräumt und immer wieder versucht, den Westen zur Kriegspartei auf seiner Seite zu machen. Dazu ist ihm auch die Heroisierung des ukrainischen Volkes recht, wodurch Zweifel an seinem Interesse an Verhandlungslösungen aufkommen.

In der zweiten Zeile ist die Sicht auf Russland im Duktus der drei Sprachen dargestellt. Hier sind innerhalb der Zeile wie auch im Vergleich zur ersten Zeile deutliche Unterschiede zu sehen, d. h. zwischen der Sicht auf Putin und der Sicht auf Russland bestehen erhebliche Unterschiede. Für die Sicht der russischsprachigen Weltgemeinschaft reduziert sich Russland nahezu total auf das WMem Grün. Alle anderen WMeme treten nicht in Erscheinung oder sind zu Restgrößen geschrumpft. Vereinfacht ausgedrückt ist Russland ein Netzwerk der Oligopole. Dem steht jedoch die Sicht der englisch sprechenden Weltgemeinschaft entgegen. Zwar dominiert auch hier eindeutig Grün, jedoch nehmen in einem stufigen Aufbau auch die drei vorhergehenden Wertesysteme Rot, Blau und Orange an der Entwicklung teil. Bei dieser Konstellation könnte es sich um ein Modell handeln, das Vorbildcharakter für eine sozial und ökologisch gestaltete Welt hat. Ob es wirklich funktionsfähig in der gegebenen Realsituation Russlands ist, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden, da es den Rahmen der Betrachtung sprengen würde. Zu bedenken ist vor allem, ob das Modell allen Veränderungen der globalen Veränderungen gewachsen sein kann. An diesem Punkt sind Zweifel angebracht, da die im Wertebild bezüglich Putin deutlich zu sehenden WMeme Beige, Gelb und Türkis hier gar nicht zu sehen sind oder viel zu schwach sind. Eine für Entwicklung offene Gesellschaft bedarf einer großen Zahl gestaltender Mitglieder, die den Sprung auf eine höhere Bewusstseinsebene geschafft haben und die Situation der Wertesysteme in der ersten Ordnung beeinflussen.

Das Wertespektrum Russlands aus ukrainischer Sicht ist ebenfalls breit angelegt, weist jedoch im Vergleich mit dem vorhergehenden Bild in englisch ein wesentlich andere Struktur auf und unterscheidet sich in seiner Vielfalt vor allem total von dem Selbstbild der Russen. Schon hieraus kann der Schluss gezogen werden, dass die ukrainische Gesellschaft offener ist als die russische. Die drei maßgeblichen WMeme Blau, Orange und Grün liegen etwa auf gleichem Niveau, wobei Grün gegenüber dem antagonistischen Blau ein geringes Übergewicht hat, d. h. die sozial-okologischen Werthaltungen sind stärker ausgeprägt als die staatstragenden tradierten Werte. Hierbei ist zu beachten, dass es sich hier um ein Bild von Russland aus ukrainischer Sicht handelt, das wahrscheinlich mehr Projektion als Realität enthalten wird. Durch Vergleich der Bilder Putins und Russlands ist der Schluss zulässt, dass die Ukrainer zwischen Russland und seinem Präsidenten deutliche Unterschiede sehen. Wieweit hierbei die ukrainisch-russische Durchmischung der Sprachen Einfluss hat, kann ohne spezielle Untersuchungen nicht festgestellt werden. Eine einfache Erklärung könnte sein, dass in diesem Bild die Sicht der russisch sprechenden Ukrainer neben die ukrainisch sprechenden Ukrainer tritt. Das Übergewicht von Grün ließe sich dann so erklären, dass auch ein erheblicher Anteil in Russland lebender Russen hier mit erfasst ist. Das Bild sollte jedenfalls Hoffnung geben, dass ein funktionierendes Miteinander russisch geprägter und ukrainisch geprägter Bevülkerungsgruppen in einem Land möglich und sinnvoll ist. Allerdings steht diese Vorstellung in krassem Gegensatz zu den Werteausrichtungen in Russland und sind eher Grund des gegenwärtigen Kriegs als Teil der Befriedung. Besonders hinzuweisen ist auf die relativ starke Ausprägung von Türkis. Darin kann eine Aktivierung religiöser oder spiritueller Energien gesehen werden, die aufgrund schwelender religiöser Auseinandersetzungen zwischen russisch-orthodoxer und  ukrainisch-orthodoxer Kirche eher auf die Konfliktsituation zurückzuführen ist als auf die friedenstiftende Funktion von Spiritualität.

Die dritte Zeile enthält die Wertwelten bezüglich des ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Auch hier sind große Unterschiede in den Werteprofilen zu sehen, die sich hinsichtlich der russischen und ukrainischen Ergebnisse stark von denen des russischen Präsidenten unterscheiden. Die englischen Ergebnisse stimmen bezüglich der drei Hauptkomponenten Blau, Orange und Grün mit jenen bezüglich Putin überein, weisen jedoch für die kleineren WMeme deutliche Unterschiede auf. Das gilt insbesondere für das bei Putin deutlicher hervortretende Beige und Gelb und das bei Selenskyj stärkere Türkis. Eine Erklärung hierfür kann in den beiden Persönlichkeiten liegen – auf der einen Seite der vom KGB geschulte systemisch denkende Putin, auf der anderen Seite der in der Gemeinschaft des Judentums verwurzelte Selenskyj. In der ukrainisch gefärbten Sicht auf Selenskyj ist ein Spiegelbild zu der russischen Sicht zu sehen. Beide Sichtweisen lassen erkennen, dass Selenskyj von beiden Gruppen gleichermaßen anerkannt wird und seine Legimität unbestreitbar ist. Eine Einschränkung dieses Bildes ergibt sich allerdings aus der englischen Sicht, sie tendiert stark zur russischen Sicht hin. Hieran wird die Erfahrung des Überfalls auf die Ukraine vermutlich einiges ändern.

In der vierten Zeile ist die Sicht auf die Ukraine unter den Bedingungen der drei Sprachen abgebildet. Die russische Sicht projeziert das Werteprofil Russlands auf die Ukraine, d. h. dominierendes und alles beherrschendes Wertesystem ist Grün. Diese Sicht entbehrt aufgrund der ukrainischen Geschichte nicht eines realistischen Kerns, denn auch in der Ukraine herrschen Oligarchien. Am 29. März 2021 berichtete die Süddeutsche Zeitung:“Das Vorgehen im Fall DTEKAchmetow ist nur ein Beispiel dafür, dass die ukrainischen Oligarchen dem Zugriff der Justiz nach wie vor entzogen sind. Die Oligarchen – neben Achmetow zählen zu ihnen etwa Ihor Kolomoiskij, Wiktor Pintschuk, Dmitro Firtasch, Serhij Lewotschkin und Ex-Präsident Petro Poroschenko – kontrollieren große Teile der Wirtschaft und über eigene Sender 70 Prozent des meinungsmachenden Fernsehmarktes. Im Parlament vertreten nach einer Abstimmanalyse des Investigativdienstes Bihus zufolge rund 100 Abgeordnete die Interessen Achmetows. Im Sinne Kolomoiskijs stimmen nach Recherchen von Bihus rund 70 Abgeordnete. Kritikern zufolge verhindert die Macht der Oligarchen seit Jahrzehnten fast alle wichtigen Reformen im Land.“ Hieraus eine Rechtfertigung des gegenwärtigen Krieges abzuleiten wäre zynisch, da Krieg grundsätzlich keine Lösung ist und der Angreifer selbst von Oligarchen beherrscht wird und kein moralisches Recht hat, sich über die Ukraine zu erheben. Dieser Aspekt erklärt aber, warum das Wertebild der Ukraine dem Russlands in der russischen Sichtweise sehr ähnlich ist. Darüber hinaus erklärt sich die Sicht auf den ukrainischen Präsidenten auch aus diesem Aspekt. Ihm ist es bisher nicht gelungen, sein Wahlversprechen zur Demokratisierung des Landes einzulösen. Unter diesen Voraussetzungen ist ein Beitritt zur Wertegemeinschaft der EU auf absehbare Zeit nicht opportun.

In der englischsprachigen Version stellt sich die Ukraine – mit geringen  Eigenarten – als Abbild des englischsprachigen Russlandbildes dar. Das WMem Grün ist bezüglich der Ukraine etwa 10%-punkte schwächer ausgeprägt, das WMem Rot ist ewa 14%-punkte stärker ausgeprägt und das WMem Beige wird hier mit ca. 5%-punkten sichtbar. Es ist somit in der Ukraine ein stärkerer Akzent auf die in Rot stattfindende Gewalt gesetzt und dafür eine geringere Beteiligung von Grün. Daraus erwächst allerdings kein positiveres Bild gegenüber Russland.

Als letztes Profil ist die ukrainische Sicht auf das eigene Land zu sehen. Sie unterscheidet sich nicht wesentlich von der auf ihren Präsidenten. Im wesentlichen handelt es sich um graduelle Unterschiede bei den WMemen Blau und Grün, ersteres fällt hier etwa 10%-punkte stärker aus zu Lasten von Grün und Orange. Darüber hinaus sind die im Bild des Präsidenten zu sehenden geringen Anteile von Beige und Purpur hier nicht zu sehen.

Insgesamt ist abschließend zu den Wertebildern zu bemerken, dass nur in einzelnen Bildern – und wenn überhaupt – nur in sehr geringen Anteilen Purpur zu finden ist, woraus sich schließen lässt, dass selbst in der prekären Situation der Ukraine magische Relikte aus Purpur nicht sichtbar werden. Möglicherweise sind diese aus dem Unterbewusstsein und in der Kindheit gelebten Anteile nur verdrängt und verlagert. Sie tauchen in folgenden Profilen auf: Präsident Putin in ukrainisch, Präsident Selenskyj in russich, englisch, ukrainisch. Im Blick auf die beiden Länder sind sie nicht vorhanden.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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Eine Antwort zu Der Ukrainekrieg – Notwendige Bemerkungen zur Bewegung der Fronten

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