Durchbrüche und Fortschritte – Gesichter Europa’s I

Bedeutende Etappen des Fortschritts aus europäischer Sicht

In diesem Abschnitt werde ich einige Schlaglichter auf wichtige Stationen der kulturellen Entwicklungen werfen, soweit sie mir für die Entwicklung der weltpolitischen Situation von Bedeutung zu sein scheinen. Dabei habe ich mich von der Darstellungsweise des Buches von Neil MacGregor mit dem Titel „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ leiten lassen. Die Darstellung wird sich auf wesentlich weniger Stationen beschränken, dafür jedoch um möglichst komplexe Darstellung bemüht sein.

Holzpflug des Neolithikums

1. Neolithische Revolution Ich beginne mit der „Neolithischen Revolution“, besser gesagt mit dem Übergang von den Jägern und Sammlern zu sesshaften Kulturen, die auf der Nahrungsgrundlage von Bodenbewirtschaftung und Weidehaltung von Tieren existierten. In der ersten Zeit der bäuerlichen Landnahme stand der Ackerbau in einem Kampf gegen den WaId, der geschlagen und gerodet werden musste, um Nahrungsflächen zu erhalten. Die Entwicklung ging seit ca. 9.500 v. Chr. vom „Fruchtbaren Halbmond“ in Vorderasien aus und erreichte ca. um 7.000 v. Chr. Griechenland und damit Europa. Die weitere Ausbreitung von dort erfolgte jedoch klimabedingt erst ab ca. 6.000 v. Chr. in nördliche und westliche Richtungen. Es sind das Beil und der Pflug, die dem Menschen halfen, das Land zu kultivieren.

Zwei Rentiere in künstlerischer Darstellung des Neolithikums

Die beiden Rentiere, die auf diesem Stück Knochen dargestellt sind, bilden das älteste Kunstwerk, das sich in einem

britischen Museum oder einer Kunstsammlung findet. Das Stück entstand gegen Ende der letzten Eiszeit, vor gut 13.000 Jahren. Es belegt, – wie auch die zahlreichen Höhlenmalereien – dass es auch vor dieser Zeit bereits ausgeprägte geistige Fähigkeiten der Menschen gab. Der Archäologe Steven Mithen nannte dies den Moment, in dem »die letzte Umgestaltung des Verstands« stattfand. Hierin kann die geistige Vorbereitung auf den nächsten Schritt zur Kultur vermutet werden. Tatsächlich stammen die Ideen von einem Leben nach dem Tod, von einer Auferstehung, einem Weltgericht, einem Himmel und dem Paradies ebenso aus dem Zoroastrismus wie die Vorstellungen von Hölle und Teufel.

Standarte von Ur Von Geni – Photo by usergeni, CC BY-SA 4.0, FRIEDEN: Der König und sein Gefolge feiern, während die Menschen zum Dank Fische, Tiere und andere Erzeugnisse spenden.

Man könnte gar nicht deutlicher vor Augen geführt bekommen, wie die Machtstrukturen in Ur funktionieren: Die Landarbeiter schleppen ihre Lasten und bringen ihre Gaben dar, während die Elite mit dem König ein Gelage abhält. (Zitat MacGregor)

«Wenn man einen Überschuss erwirtschaftet, bilden sich gesellschaftliche Klassen oder Schichten heraus, denn einige leben von der Arbeit anderer, was in den traditionellen kleinen Agrargemeinschaften nicht möglich war, wo jeder gearbeitet hat. Anschließend entstehen eine priesterliche Kriegerschicht, organisierte Kriegführung, Tributzahlungen und so etwas wie ein Staat – womit eine neue Form von Macht entsteht. All diese Dinge hängen zusammen. Wo jeder die gleichen Güter produziert, kommt es zu keiner Trennung zwischen Reich und Arm; erst wenn man ein Mehrwertprodukt hat, von dem einige leben können und das andere produzieren müssen, entsteht ein Klassensystem; und daraus wird schon bald ein Macht- und Herrschaftssystem. Es gibt jetzt Einzelne, die für sich ein göttliches Recht in Anspruch nehmen, und das korrespondiert mit der Entstehung einer Kosmologie. Wir haben es also hier mit dem Ursprung der Zivilisation zu tun, aber er geht einher mit Blutvergießen, mit Kräftemessen und mit persönlicher Selbstüberhöhung.» (Anthony Giddens, zitiert nach MacGregor)

2. Entstehung der Gesellschaft Im 8. Jahrtausend v. Chr. entstanden im Nahen Osten erstmals Großsiedlungen mit mehreren tausend Einwohnern, die nach heutigen Maßstäben jedoch noch nicht als Städte bezeichnet werden können. Aufflammende Konflikte mussten in dieser ungewohnten sozialen Verdichtung durch neue Regeln des Zusammenlebens kontrolliert werden. Dazu dienten auch Rituale wie Bestattungszeremonien, die das Gefühl einer gemeinsamen Identität stärkten. Sie sind Zeugen einer geistigen Entwicklung, die von Verhaltensregeln und Sinngebungen bestimmt war. Hierzu gehörten Könige und Priesterkasten, die ab dem 3. vorchristlichen Jahrtausend nachgewiesen sind. Seit dieser Zeit sind auch genaue Himmelsbeobachtungen nachweisbar, die zur Ableitung von Vorgaben für lebensnotwendige Entscheidungen dienten. Unter dem wachsenden sozialen Druck entwickelte sich das psychische Ich, das nun als Träger von Interessen an dem Spiel konkurrierender Mächte teilnehmen konnte. Zu den kulturellen Fortschritten in dieser Epoche gehören die Entwicklung von Schriftsystemen und schriftlichen Verhaltensordnungen. Als wichtiges Zeugnis aus dieser frühesten Zeit der Geschichtsschreibung dient der aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. stammende Codex Hammurabi, der als Gesetzessammlung, die vom König Hammurabi stammt und in Stein gemeißelt wurde, auf Tontafeln weite Verbreitung fand.

3. Achsenzeit Im Jahr 2008 berichtete Thomas Assheuer in der Wochenzeitung DIE ZEIT über eine Tagung in Erfurt, die den vom Philosophen Karl Jaspers geprägten Begriff „Achsenzeit“ zum Thema hatte. Der Verfasser des Berichts mit dem Titel „Kam so die Gewalt in die Welt?“ schrieb: „Auf der kosmischen Weltuhr dauerte das kulturelle Beben nur ein paar Sekunden, doch es warf Wellen, deren Ausläufer bis heute zu spüren sind. Die Rede ist von der »Achsenzeit«, jenen Jahrhunderten zwischen 800 bis 200 vor Christus, die der Philosoph Karl Jaspers einmal als »Wunder« bezeichnet hat. In rätselhafter Gleichzeitigkeit und ohne dass sie untereinander in Verbindung gestanden hätten, ereignete sich in allen Hochkulturen eine kulturelle Revolution: In China betraten Konfuzius und Laotse die Bühne, in Indien erschien Buddha, in Persien Zarathustra und in Palästina eine Schar biblischer Propheten. In Griechenland lehrten philosophische Genies; Homer schrieb seine Epen, die Tragödiendichter Aischylos, Euripides und Sophokles ihre Theaterstücke. Die Achsenzeit philosophierte ein Loch in den mythischen Himmel und erfand den monotheistischen Gott, der die Welt in ein Diesseits und ein Jenseits trennte. Über Nacht, in einem Wimpernschlag historischer Zeit, »geschah der tiefste Einschnitt der Geschichte«. Damals, so schwärmte Jaspers 1949, entstand »der Mensch, mit dem wir bis heute leben«. Oder griffiger: Vor zweieinhalbtausend Jahren begann die Moderne.

Es erübrigt sich, die anlässlich der Tagung ausgetauschten Positionen hier zu referieren, es genügte dem Berichterstatter bereits feststellen zu können, dass ohne die Attraktivität des Themas ein so illustrer Kreis von Diskussionsteilnehmern kaum vorstellbar gewesen wäre. Der Autor des Berichts zieht schließlich selbst Bilanz: „Die Achsenzeit war die erste Epoche, die nicht nur fragte: »Was ist gut für mich?«, sondern: »Was ist gut für alle?« Auf die globalisierte Weltgesellschaft bezogen, hieße dies: Gibt es heute noch eine Gattungsperspektive, ein »gemeinsames Selbstverständnis aller Völker« (Jaspers)? Lässt sich also die Frage »Was ist gut für alle?« noch einmal beantworten – zum Beispiel durch die Etablierung eines Internationalen Rechts (Habermas), was dann einer neuen Achsenzeit gleichkäme?

Falls es diese Gattungsperspektive nicht mehr gibt, und jeder »Realist« wird das so sehen, dann zerfiele die Weltgesellschaft in wilde Egoismen, in einen endlosen Kampf der Kulturen. Mit tragischer Ironie würde sich die Moderne in eine quasi archaische Schicksalsmacht verwandeln, noch viel unheimlicher und gewalttätiger als all die kosmischen Mächte, die sie in ihren Anfängen, in der Achsenzeit, entzaubert und als Projektion eigener Ängste durchschaut hatte.“

Der Eindruck, den der Leser hier bekommen haben wird, täuscht ihn nicht: Ein besonderes Interesse an einer Aktualisierung der Achsenzeit geht von Jürgen Habermas aus – doch seine Stimme verhallt im Dickicht der tagespolitischen Ereignisse und der Bemühungen um eine Neuauflage des kalten Krieges. Wenn solche Menschheitsfragen, wie die der zunehmenden Klimakatastrophen keine Kräfte einer Weltgemeinschaft mobilisieren können, wie soll es dann noch zur Überwindung der Barrieren auf geistig-kulturellen Gebieten kommen?

Persischer Streitwagen
Urheber: Ealdgyth (Eigenes Werk), CC BY-SA 3.0

Der bereits oben zitierte Neil MacGregor fokussiert sein kulturgeschichtliches Interesse auf die Zeit vom 3. bis 5. Jh. v. Chr. und betont, dass die Kulturen jener Zeit dasjenige erfanden und definierten, was wir heute als «Staatskunst» bezeichnen würden. „Manche haben diese Zeit als die Epoche der «Imperien des Geistes» etikettiert.“ Er beruft sich auf den Persien-Experten Michael Axworthy, der das Perserreich hierzu zählte und im Wesentlichen dadurch charakterisierte, dass das bis zu dieser Zeit geltende Recht des Mächtigsten durch das „Prinzip der eisernen Faust im Samthandschuh“ abgelöst wurde. Während das römische Imperium in den eroberten Ländern eine Politik der Inkulturation betrieb, so dass die Bewohner der Länder zu Römern wurden, habe seit der Herrschaft von König Kyros II Persien große Toleranz gegenüber der Kultur besiegter Länder gezeigt. (Dieser Ruf hat ihm u. a. eine positive Erwähnung im Buch Esra 1 der christlichen Bibel – wo er je nach Ausgabe auch Kores heißt – eingebracht.) Das Perserreich entsprach daher weniger einem Imperium und kann eher als Ansammlung von Königreichen bezeichnet werden.

Das riesige Perserreich reichte von Libyen und der Türkei im Westen bis Pakistan im Osten. Der abgebildete Streitwagen symbolisiert die Anforderungen, die an die Verwaltung eines so großen Reiches gestellt waren und welche Mittel zur Erfüllung der Aufgaben eingesetzt wurden. Der neben dem Wagenlenker stehende „Fahrgast“ ist als Satrap (etwa Provinzgouverneur) zu identifizieren, der auf Inspektionsreise ist. Das Fahrzeug ist durch die großen Räder und die Bespannung mit vier Pferden für die schnelle Überwindung großer Entfernungen ausgelegt. Den Anforderungen des Wagens entsprechend gab es breit ausgebaute Straßen mit Schotterbelag, die bei jedem Wetter befahrbar waren. Auf den Straßen verkehrten neben den Beamten auch Post- und Kurierdienste, die in Tagesetappen entlang der Routen stationiert waren. Diese Dienste waren zu Pferd und zu Fuß unterwegs. Das Verkehrssystem garantierte, dass Menschen ohne bewaffnete Begleitung lange Strecken zurücklegen konnten und Botschaften schnell im Land verbreitet wurden. Die Qualitäten dieses Systems wurden schon in der damaligen Zeit von dem griechischen Historiker Herodot berichtet. Er beschreibt noch anderes, was in dem Bild zu sehen ist: «Die Perser sind es, die am meisten von allen fremde Bräuche bei sich dulden. Sie halten die medische Kleidung für schöner als ihre eigene und tragen sie deshalb. Im Kriege legen sie den ägyptischen Brustpanzer an.»

Abschließend lässt MacGregor nochmals den Persien-Experten Michael Axworthy zu Wort kommen: «In Iran herrscht ein großer und unbedingter Stolz auf die Vergangenheit … Wir haben es mit einer Kultur zu tun, die sich in der Komplexität wohlfühlt, die mit der Komplexität verschiedener Ethnien, verschiedener Religionen, verschiedener Sprachen konfrontiert war und die Mittel und Wege gefunden hat, sie alle zu integrieren, in Beziehung zueinander zu setzen und zu organisieren. Nicht zwangsläufig locker oder auf relativierende Weise, sondern auf grundsätzliche Art, welche die Dinge zusammenhält. Und die Iraner wollen unbedingt, dass die Leute begreifen, dass sie diese lange, lange, lange Geschichte haben und dieses antike Erbe besitzen.»

Kampf gegen die Kentauren; Quelle: WIKIMEDIA Commons; Von Urban – Selbst fotografiert, CC BY-SA 2.5

Das abgebildete Marmorrelief stammt aus dem Parthenon im griechischen Athen. Der britische Diplomat Lord Elgin hat es aus den Ruinen des im Jahre 480 v. Chr. von persischen Truppen zerstörten Tempels beiseite geschafft und gehört heute zu den Ausstellungsstücken des Britischen Museums. Es repräsentiert hier den antiken Tempel auf der Athener Akropolis. Nach Auffassung des früheren Museumsdirektors Neil MacGregor gibt es „nur wenige Objekte, die in den letzten 200 Jahren so übereinstimmend als Verkörperung ganz bestimmter Ideen gesehen wurden“.

In dem hier interessierenden Zusammenhang mit der Achsenzeit und der Auseinandersetzung mit der von den Persern geschaffenen Kultur ergeben sich aus den kriegerischen Konflikten mit den Griechen Kontraste, die das Besondere an den aufeinander treffenden Kulturen markant hervortreten lassen.

Die am Parthenon platzierten Skulpturen wollen die von den Athenern gesehene Version des Universums darstellen, das aus Göttern, Helden und Sterblichen besteht. Ihre künstlerische Ausarbeitung verfolgte das Ziel, „ein neues Gleichgewicht zwischen menschlichen Körper, menschlicher Bewegung und der Kleidung zu schaffen … Ziel war es, die perfekten Proportionen des menschlichen Körpers zu entwerfen.“ (Zitat: Olga Palagia, Professorin für Klassische Archäologie an der Universität Athen). Die nach diesen Grundsätzen geschaffenen Figuren haben ein hohes Maß von Harmonie und Gleichgewicht erreicht, die sie zu zeitlosen Kunstwerken gemacht haben, deren Besitz auch heute noch als kollektiver Gewinn angesehen wird.

Die Reliefs stellen geistig und physisch dar, was es bedeutet, Athener zu sein. Dabei ergibt sich das Gesamtbild aus der Interpretation komplexer, miteinander verwobener Szenen, die der Mythologie und dem Alltagsleben entnommen sind. Das Leitmotiv des antiken Athen war das Gewinnen und Verlieren in einer kämpfenden Welt. Heldenhafte Konflikte waren notwendig, um die Ordnung zu garantieren. Die als „Metopen“ bezeichneten 92 quadratischen Reliefs stellen Figuren dar, die als Fabelwesen – halb Pferd und halb Mensch, Kentauren genannt – mit den Lapithen – den griechischen Menschen – kämpfen.

Nach MacGregors Auffassung sind diese Skulpturendie ersten und besten Ergebnisse einer neuen visuellen Sprache„, die auf mehreren Ebenen gelesen werden können. Zunächst sind sie Ausdruck von Ereignissen der Zeit, in der sie entstanden. Unzweifelhaft war dies der Kampf Griechenlands gegen Persien, wobei die mythologischen Kentauren das feindliche Andere – dem nichts Menschliches anhaftet – und die Lapithen – ein griechischer Volksstamm – den athenischen Menschen symbolisieren. „Der Kampf gegen die Kentauren, den wir auf den Reliefs sehen, wird zum Sinnbild für die fortwährende Schlacht, die in den Augen der Athener jeder zivilisierte Staat ausfechten muss. Der rationale Mensch muss ständig gegen rohe Unvernunft ankämpfen. Dem Feind die menschlichen Attribute abzusprechen führt auf gefährliche Abwege, aber es ist ein sehr brauchbarer Schlachtruf, der die eigenen Reihen schließt, wenn man in den Krieg zieht. Will man das Chaos verhindern, so die Botschaft, muss die Vernunft immer und immer wieder gegen die Unvernunft kämpfen.

MacGregor begründet die Auswahl des abgebildeten Reliefs – in dem der Kentaur den griechischen Krieger besiegt – damit, dass die Vernunft nicht immer siegt. „Die Verteidigung des vernünftig geordneten Staates wird einige seiner Bürger das Leben kosten. Und doch – und gerade deshalb ist diese Skulptur ein so herausragendes Werk – wird der sterbende Mensch mit solchem Pathos gezeigt, wird der erbitterte Kampf mit solcher Eleganz dargestellt, dass der Sieg nicht an das sich aufbäumende Halbtier geht, sondern an den Athener Künstler, der den Konflikt in so große Schönheit verwandeln kann. Auf lange Sicht, so scheint diese Skulptur zu sagen, können allein Geist und Vernunft Dinge schaffen, die von Dauer sind. Der Sieg ist nicht nur politischer Natur; er ist auch künstlerischer und intellektueller Art.

In einer weiteren Perspektive erörtert MacGregor die Sicht der verbündeten Stadtstaaten Athens auf diese Darstellung. Zu diesem Verständnis weist er darauf hin, dass das Parthenon nicht nur der Religionsausübung diente, sondern auch als Schatzkammer, an die von den Verbündeten Schutzgelder zu zahlen waren, damit Athen sich an die Spitze der Verteidiger der griechischen Freiheit stellte. Auf diese Weise wurden die Verbündeten immer mehr zu Satellitenstaaten Athens. Besonders die Abzweigung von Geldern für den Ausbau der Bauten auf der Akropolis erregte Kritik in den eigenen Reihen, die darin gipfelten, dass sich Athen mit der Abzweigung der Gelder für Bauzwecke zu einer aufgetakelten Hure mache. Mit der künstlerischen und kostenträchtigen Erhebung des Parthenons zu einem Heiligtum war damit auch die profane Seite des Bauwerks sichtbar geworden.

In einer dritten Perspektive geht der Autor auf die Rolle des Parthenon als geschichtlichem Symbol ein. Er schreibt: “Ursprünglich als Tempel für die jungfräuliche Göttin Athene entworfen, war er jahrhundertelang eine christliche Kirche für die Jungfrau Maria und wurde später in eine Moschee umgewandelt. Ende des 18. Jahrhunderts war er eine vernachlässigte Ruine in einem unbedeutenden Athen, das von den Türken regiert wurde.“ 1821 erhoben sich die Griechen gegen die Türken und erkämpften bis 1828 ihre Unabhängigkeit. In dieser Zeit kam es, initiiert durch Deutsche, Engländer, Franzosen und Russen, zu einer entscheidenden, bis heute nachwirkenden Änderung in der Eigenwahrnehmung der Griechen: Sie betrachteten sich fortan zunehmend als Nachfahren der antiken Griechen und nicht mehr als Byzantiner. MacGregor zitiert hierzu die griechische Archäologin Olga Palagia, die diesen Übergang in eine Neuausrichtung des griechischen Selbstverständnisses darstellt. Nach ihrer Ansicht wollten die Griechen das Athen des Perikles wiederauferstehen lassen und es habe damit die dauerhafte Identifikation der neuen griechischen Nation mit dem Parthenon als Symbol mit neuer Definition begonnen. Abschließend stellt MacGregor hierzu fest: „Dieses berühmte Bauwerk hatte somit in den 1830er Jahren noch einmal eine ganz neue Bedeutung bekommen. Nicht als Selbstbild einer antiken Stadt, sondern als Symbol eines neuen, modernen Landes.

Wie weit der von MacGregor Befund der Realität entspricht, unterliegt – wie auch die Ansicht zu Kunstwerken – dem interessierten Urteil des Betrachters. In jedem Fall ist es jedoch dem Autor gelungen, die Spannung im Verhältnis des antiken Griechenland zu Persien plastisch in Erscheinung treten zu lassen. Hier ein politisches System der aktiven Bürger mit dem Ziel der Vervollkommnung des Individuums, dort ein System des toleranten und straff organisierten Staates, hier Freiheit der Bürger und Ausbeutung der Fremden, dort Einheit in der Vielfalt der Kulturen.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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