Neue Wege in den USA – Mit Vielfalt gegen rechten Populismus III

Die Besiedlung des Nord West Territoriums und die Folgen

Zur Bewältigung der aus der Unabhängigkeit erwachsenen Aufgaben wurde eine ständig tagende Bundeskonferenz – der Continental Congress – abgehalten. Im Rahmen dieser Konferenz wurden auch die Regeln für die Besiedlung des Nordwest-Territoriums festgelegt. Die hiermit gesammelten Erfahrungen sollten – wie sich später zeigte – auf die weitere Besiedlung der USA richtungweisenden Einfluss haben. Doch zunächst waren die bestehenden Verpflichtungen gegenüber den Geldgebern für den gewonnenen Unabhängigkeitskrieg konzeptionell zu fixieren. Dabei handelte es sich insbesondere um hohe Staatsschulden gegenüber dem französischen König Ludwig XVI. und die Entlohnung der Söldner in Form von Land. Einem einfachen Soldaten standen 40 ha verbrieftes Land zu, einem Oberst 200 ha. Bereits diese Verpflichtungen begründeten die Notwendigkeit einer Vermessung der hinzugewonnenen Gebiete, um einen Überblick über die anstehenden Landvergaben zu erhalten.

Über die Zielsetzungen, die den Continental Congress leiteten schreibt Gerhard Fehl als berufener Kenner der amerikanischen Siedlungsentwicklung in einer Internet-Veröffentlichung:

Nordwestterritorien

Nordwestterritorien in den USA, Quelle: WikiMedia Commons, Von Karte: NordNordWest, Lizenz: Creative Commons by-sa-3.0 de, CC BY-SA 3.0

„Selten fängt ewas bei Null an, doch hier bietet sich ein Beispiel, bei dem der Anfang einer langen und prägenden Entwicklung nahe beim Nullpunkt lag. Es waren damals wohl einige klassische und zeitgenössische Beispiele systematisch-geometrischer Bodenaufteilung großer Territorien bekannt: etwa die rasterförmige, auf die Römerzeit zurückgehende Einteilung der Po-Ebene bei Padua; oder der aufgeklärte Vorschlag eines Geometers im 18, Jh. für eine rasterförmige administrative Neueinteilung von Frankreich und natürlich einige Beispiele des späten 17. Jh. von staatlich geförderten Ansiedlungen an der »Indianergrenze« in Virginia und Kentucky (Reps 1992, 208-210). Keines der damals bekannten Beispiele war jedoch für den Continental Congress vereinbar mit den Grundsätzen der Verfassung. Denn der nach Freiheit und Selbstbestimmung auf jeder politischen Ebene – Bundesregierung, Einzelstaaten, Landkreise (counties), Gemeinden, Quartiere – strebende Bund der Gründungsstaaten hatte sich ja gerade aus den Fesseln englischer Kolonialherrschaft befreit und lehnte jegliche obrigkeitliche Form von »Kolonisierung« entschieden ab, insbesondere die Zuteilung von Land seitens einer Obrigkeit an ihre Untertanen. Statt dessen fühlten sich die Bundesstaaten den Vorstellungen eines allgemeinen privaten Grundeigentums, eines allgemein zugänglichen Bodenmarktes, demokratischer Mitbestimmung und dem Prinzip der »Subsidiarität« verpflichtet: Was auf unterer Ebene zu regeln möglich sei, solle dort geregelt werden! Dem gemäss: Aufbau des Staates von unten her, von den sich zu örtlichen Gemeinschaften zusammenfindenden Siedlern, denen keine Obrigkeit Vorschriften machen sollte, wo und wie sie zu siedeln hätten, wieviel jedem zugeteilt würde und wem jeder zu Dank und Gehorsam verpflichtet sei. Eine örtliche Gemeinschaft sollte vielmehr – im Sinn der »grassroot democracy« – für ihr Gemeindegebiet eigene Normen aufstellen können, was z.B. Art, Form und Ausgestaltung der Ansiedlung anbelangte; sie sollte aber auch die Verhaltensweisen ihrer Mitglieder reglementieren können: »In allem, was die gegenseitigen Pflichten der Bürger angeht, ist jeder ein Untertan der Gemeinschaft. In allem, was nur ihn selbst angeht, ist er ein Herr; er ist frei und schuldet Gott allein Rechenschaft für sein Tun. Die Gemeinschaft darf sich in seine Handlungen nur einmischen, wenn sie sich durch sein Tun verletzt fühlt oder wenn sie seine Mitarbeit benötigt« (deTocqueville 1835 (1996, 56)).“

Über diese Grundsätze bestand unter den Vertretern der 13 ehemaligen Kolonien weitgehende Einigkeit. Wenn es jedoch um die Fragen der Aufteilung und Eigentumsbildung bezüglich des neuen Territoriums ging, prallten die Interessen hart aufeinander. Es war schließlich der spätere US-Präsident Thomas Jefferson, dessen Vorschläge eine knappe Mehrheit des Kongresses fanden. Nachfolgend gebe ich eine kurze Zusammenfassung nach den Angaben von Fehl:

  • Eigentümer des gesamten Territoriums wird zunächst die neu zu bildende Bundesregierung;
  • es werden fünf neue Bundesstaaten gebildet;
  • die Mindesteinwohnerzahl eines Staates wird auf 60.000 EW festgelegt;
  • die Gründungsstaaten nehmen ihre Gebietsansprüche zurück und werden im Gegenzug von den Kosten für den Aufbau und die Unterhaltung der Bundesregierung freigestellt;
  • Boden wird nicht ohne Gegenleistung zur privaten Nutzung überlassen;
  • die Nutzung des Bodens wird durch berittene Truppen überwacht;
  • die Interessen der Indianer sind angemessen zu berücksichtigen;
  • die Besiedlung erfolgt zunächst ausschließlich von den Flüssen und Seen aus, da für den Landwegebau kein Geld vorhanden ist;
  • die Landvergabe erfolgt abschnittweise zeitlich gestreckt in Größen von wenigen hundert bis zu 1.000 Quadratmeilen (1 sqm = 2,6 qkm);
  • für das gesamte Territorium wird ein Grundkataster angelegt;
  • das gesamte Territorium wird rasterförmig vermessen, ohne auf die vorhandenen natürlichen Strukturen einzugehen;
  • bei der Besiedlung ist davon auszugehen, dass der überwiegende Teil der Flächen durch Landwirtschaft, Gewerbe und Industrie genutzt wird;
  • vorab sind vier privilegierte Interessengruppen zu berücksichtigen: die Bundesregierung, die Kriegsveteranen, private Entwicklungsgesellschaften, kleine Siedler;
  • Einteilung des Territoriums in einem 1-Meilen-Gitter (National Grid).

Für die kleinen Siedler wurde eine Farmgröße von 20 bis 50 ha zu Grunde gelegt. Ihnen wurde die Hauptlast der Besiedlung zugerechnet. Um die staatliche Verwaltung nicht mit diesem kleinteiligen Landverkauf zu belasten wurden größere zusammenhängende Flächen an wenige große Käufer vergeben, die diese Flächen aufteilten und die Teilstücke an andere Käufer weiter verkauften, die wiederum in gleicher Weise verfuhren, bis die Endgrößenordnung erreicht war. Dieses „Kaskadenprinzip“ wurde auch in Städten angewandt und führte dort zu Grundstücksgrößen von 500 bis 1000 qm. Dieses System der Grundstücksvergabe führte zu einer Verteuerung des Bodens für den Endkäufer und begründete aus den im Zwischenhandel abgeschöpften Gewinne das Geschäft privater Stadtentwickler, deren Interessen sich später in den großen Vorhaben der Suburbanisierung in den USA durchsetzten und auch zum Vorbild für ähnliche Verfahrensweisen in Europa wurden.

Bei der Durchführung des aufgestellten Programms zur Besiedlung des Nord-West-Territoriums traten einige Fehler zu Tage, die korrigiert werden mussten, wenn das Tempo der nur schleppend anlaufenden Landvergabe erhöht werden sollte. Als schwerwiegendsten Fehler nennt Fehl die Einschätzung des Kongresses, mit den Indianerstämmen könne eine zügige Einigung über die Abtretung ihrer Stammesgebiete erzielt werden. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Indianerkriege kosteten zwischen 1830 und 1891 ca. 400.000 Indianern und 2.283 gefallenen amerikanischen Soldaten das Leben [Angaben nach Fehl von STAMMEL, H.J. (1972) : Lexikon amerikanischer Pioniergeschichte. Legende und Wirklichkeit. Gütersloh]. Als peinlichsten Fehler nennt Fehl die leichtfertige Ausgabe von Berechtigungsscheinen an die Kriegsveteranen. Auf Grund der schleppenden Umsetzung der Landvergabe durch die offiziellen Stellen verkauften viele einfache Soldaten ihre Berechtigungsscheine für durchschnittlich nur 6% des Ausgabewerts vorwiegend an Offiziere, die auf diese Weise Eigentum an riesigen Ländereien in unvermessenem Gebiet am Ohio River erwarben. Ein weiterer Fehler bestand darin, dass bei der Vermessung die Rasterlinien lediglich als Grenzen für Privatland oder Verwaltungseinheiten dienen sollten und keine Wegeverbindungen berücksichtigt wurden. Verkehrs- und Versorgungsstrukturen mussten daher nachträglich in die Rasterstruktur des Raumes „hineingebrochen“ werden. Hierzu noch einmal Fehl:

„Erst 1796 wurde erstmals in der Connecticut Reserve am Eriesee eine neue Praxis erprobt, dass nämlich die Gitterlinien des National Grid zugleich als künftige Linienzüge für Wegetrassen angesehen wurden: Bei Abschluss eines jeden Kaufvertrages mussten, als ein Vorbehalt des Bundesstaates Connecticut, die Trassen auf den 1-Meilen Gitterlinien als Mittellinie beidseitig in einer Breite von je 40 Fuss ( = 16 m) »für alle Zeit« von Bebauung frei gehalten werden (Reps 1996, 217). Bei entstandenem Verkehrs- oder Verbindungsbedarf mussten dann die angrenzenden Grundeigentümer das ihnen je einseitig der Gitterlinie zugefallene Land der Wegetrasse für die Anlage eines neuen öffentlichen Wegs an die öffentliche Hand entschädigungslos zurückgeben….Seither wurde diese Praxis, dass die Gitterlinien des National Grid nicht nur Grenzen markieren, sondern auch als Leitlinien potentieller Wegetrassen fungieren, in den jüngeren Bundesstaaten verallgemeinert – und sie gilt bis heute.“

Die von vornherein beabsichtigte Gründung von Städten war auf Grund des programmatischen Vorrangs landwirtschaftlicher Nutzung eher die Ausnahme. Sie ergab sich aus der Notwendigkeit zur Errichtung von Hauptstädten in den fünf neu geschaffenen Bundesstaaten, durch religiös oder weltanschaulich vereinte Siedlungsgemeinschaften, durch sukzessive Anlagerung weiterer Einzelvorhaben an vorhandene Siedlungsansätze im Rahmen des vorgegebenen Rasters und durch spekulativ motivierte Bodenunternehmer. Letzteren Stadtgründungen kommt die größte Bedeutung zu. Aus den Marktdaten dieser Entwicklungsmaßnahmen lassen sich für die Zeit zwischen 1785 und 1835 nach Fehl vier Hauptmerkmale benennen, die für die Nachfrage bestimmend waren:

  • die Aufteilung der Grundstücke in einem Raster;
  • die Orientierung zum Flusslauf;
  • Lage der zum Baugrundstück gehörenden Ackerparzelle zur Selbstversorgung;
  • Verzicht auf Rangunterschiede in den Grundstücksgrößen (Gleichheit und Gleichberechtigung)

Das beschriebene System des National Grid wurde später auf die gesamte Fläche der USA ausgedehnt. In einer Art Umkehr der europäischen Tradition basierte die Flächennutzung in Amerika auf einem abstrakten, beliebig erweiterbaren und allgegenwärtigen Straßensystem, das sich aus diesem Rastersystem ableitet. Das führte letztlich dazu, daß der Highway gewissermaßen selbst zu einem ‚Objekt‚ in der Kulturlandschaft erhoben wurde.

Ein Blick aus dem Flugzeug läßt bei einem Überlandflug nur wenige Abweichungen von diesem Rastersystem erkennen. Allerdings gibt es in der geschichtlichen Entwicklung zwischen den Neuenglandstaaten und dem Mittleren Westen einerseits und den Südstaaten andererseits deutliche Unterschiede. Während in den ersteren das Raster stark ausgeprägt ist und neben einem Geschäftszentrum im Stadtkern die Funktionen Wohnen und Gewerbe in der Peripherie streng voneinander getrennt sind, verfügen die Südstaaten nicht über historisch gewachsene Stadtkerne. Die meisten städtischen Funktionen waren dort lange Zeit räumlich verstreut oder wurden vollständig von den größeren Plantagen übernommen, die das wirtschaftliche Leben eines Großteils der Region beherrschten. Als die Städte im 19. und 20. Jahrhundert zu wachsen begannen, tendierten sie dazu, sich an die Strukturen im mittleren Westen anzugleichen. In den ehemals mexikanischen Gebieten blieb dagegen ein starker Einfluss der lateinamerikanischen Architektur erhalten.

Dem ursprünglichen Modell des kleinen landwirtschaftlichen Familienbetriebs folgend gab es im frühen 20. Jh. einen Höchststand landwirtschaftlicher Betriebe  von rund 32 Mio.. In den späten 80-er Jahren war dieser Bestand durch Zusammenlegung von Farmen und immer stärkeren Kapitaleinsatz auf ca. 5 Mio. Betriebe zusammengeschmolzen, obwohl die Bevölkerungszahl in diesem Zeitraum von ca. 100 Mio. auf 245 Mio. gewachsen war. Dieser schnelle Wandel der wirtschaftlichen Verhältnisse, die mit einer ebenso schnellen Entwicklung der Städte einher ging, führte zu einem Urbanisierungsgrad von heute 82%.

Obwohl die USA heute ein wissenschaftlich und technologisch hoch entwickeltes Land sind, besteht gegenüber der Großstadt weit verbreitete Skepsis, die aus den oben geschilderten Mythen und den Geschichten der Familien, die ihre landwirtschaftliche Wirtschaftsgrundlage  verloren haben, gespeist wird und das kulturelle Bewusstsein stark mitbestimmt.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
Dieser Beitrag wurde unter Kultur, Politik, Städte, Trends, USA abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar