Gerechtigkeit als biblische Darstellung im Werk Caravaggios
Die von Boehm in Bezug genommene Wahrheit der alttestamentlichen Schlüsselszene göttlicher Willkür am Menschen in der Opferung Isaaks durch den Urvater Abraham hat der Maler Caravaggio im Stil des Frühbarock ergreifend authentisch dargestellt.
„Die Opferung Isaaks ist im Buch Genesis 22,1-13 beschrieben. Gottes Befehl folgend, hat Abraham seinen einzigen Sohn auf eine Berghöhe im Land Morija geführt, um ihn dort zu opfern. In Caravaggios dreiviertelfigurigem Gemälde ist der dramatische Höhepunkt der biblischen Erzählung geschildert. Die mächtige Gestalt Abrahams steht, in ein ockerfarbenes Gewand und einen roten Mantel gehüllt, in vorderster Bildebene und ist im Begriff, das Opfer zu vollbringen. Mit der Linken hat er den auf dem Opferaltar liegenden Isaak gewaltsam gepackt und mit der Rechten das Messer bedrohlich nahe an den Hals des Knaben herangeführt. Der sich windende nackte Isaak hat die Hände auf dem Rücken gebunden und seinen von Angst und Entsetzen erfüllten Blick auf den Betrachter gerichtet. Im letzten Moment greift der von links herannahende, geflügelte Engel dem sich erstaunt umwendenden Abraham in den Arm und bedeutet ihm mit einem Zeigegestus der linken Hand, den am rechten Bildrand stehenden Widder anstelle des Sohnes zu opfern. Der Patriarch, bereit, den einzigen Sohn zu opfern, hat die schwere Prüfung bestanden, seine Gottesfurcht und seinen bedingungslosen Gehorsam bewiesen. Typologisch weist die Opferung Isaaks unmittelbar auf die Passion und den Opfertod Christi voraus. Caravaggios Darstellung hat die traditionelle Ikonografie der alttestamentarischen Szene durch die naturalistische Darstellung der Protagonisten zugespitzt. Irritierend und von der biblischen Erzählung wie der traditionellen Ikonografie abweichend ist das Motiv des Knaben, der sich keineswegs still in sein Schicksal fügt, sondern von Angst und Entsetzen erfüllt auf dem Altar zu winden scheint. Dem bedingungslosen Gehorsam und der Entschlossenheit Abrahams wird die allzu menschliche Reaktion des ahnungslosen Knaben gegenübergestellt.“ (Sebastian Schütze: Caravaggio – Das vollständige Werk; Verlag Taschen, Köln 2017)
In der kunstgeschichtlichen Bewertung der von Caravaggio geschaffenen großen Werke – zu denen auch diese Opferungsszene gehört – in seiner römischen Schaffensperiode wird hervorgehoben, dass die szenischen Darstellungen ausführlicher als in der biblischen Erzählung oder der ikonografischen Tradition vorgeprägt sind, und den Betrachter unmittelbarer in Reaktion, Betroffenheit und Anteilnahme einbinden. Damit hat der Maler es verstanden, die erst in der Moderne bewusst werdende Rolle des Betrachters zu intensivieren.
Zwar war es bereits seit der Antike bekannt, dass Schönheit keine Eigenschaft ist, die schönen Dingen innewohnt, sie liegt bekanntlich »im Auge des Betrachters«. Die spontan anmutende Empfindung einer Bildszene erfordert jedoch Vorwissen, dass sich erst im Zuge der Aufklärung verbreitete. Ohne verinnerlichtes, unbewusstes Erkennen der Zusammenhänge kann sich ein Nachempfinden nicht einstellen. Die seit der industriellen Revolution fortschreitende Vereinfachung in der Gestaltung des Lebensraums hat auch zu der in hohem Maße festzustellenden Verödung des Gefühlslebens beigetragen, und zur Vereinsamung vieler Menschen geführt. Als erstes Land weltweit hat Großbritannien 2018 unter dem Druck von ca. 9 Mio. einsamer Menschen ein Ministerium für Einsamkeit geschaffen.
Im Gesamtwerk Caravaggios aus seiner Zeit in Rom befinden sich bedeutende Bilder für mächtige Auftraggeber, die eine zeitgeschichtliche Deutung biblischer Inhalte darstellen. Aufgrund des Einflusses kirchlicher Autoritäten auf die künstlerische Ausgestaltung – dem Decorum – kann auf den Wandel theologischer Positionen geschlossen werden. Andererseits hatte auch der Maler durch sein Werk Anteil daran und eine gewisse Deutungshoheit erhalten.
Die großformatigen Historien für private Auftraggeber boten Caravaggio
größere Freiräume und gehen in seiner Interpretation der religiösen Motive zum Teil
noch über die Altarbilder hinaus. An großen biblischen Beispielen sind Grundfragen des Glaubens thematisiert und in eine menschliche Perspektive gerückt, dabei Spannungen zwischen Glaubensidealen und Glaubensrealitäten und die Barmherzigkeit Christi betonend, der Zweifeil und Schwäche nicht verdammt, sondern sich gerade in solchen Momenten offenbart. Die dramatische Zuspitzung der Bilderzählung und der Naturalismus der Darstellung überbrücken machtvoll die historische Distanz zwischen biblischer Historie und eigener Gegenwart und laden den Betrachter zu unmittelbarer Identifikation und Übertragung ein. (bearbeitetes Zitat aus Schütze, s. o.)
Der französische Kunsthistoriker Gérard Denizeau (fr.) stellt drei Gemütszustände heraus, die in Caravaggios Bild ablesbar sind und bis heute die religiösen Spannungen der Kulturen bestimmen. Die wesentlichen Hinweise hierauf stelle ich in Anlehnung an den Text Denizeaus nachfolgend – kursiv geschrieben – dar:
- Das Cesicht Abrahams steht mit seiner kalten Strenge und seiner erbarmungslosen Entschlossenheit in krassem Gegensatz zu dem des Kindes. Kein Mitleid, kein Zögern. Das ist kein Vater, der den Sohn tötet, sondern ein Mystiker, der Gesetzen gehorcht, deren Grausamkeit er akzeptiert.
- Im Gesicht Isaaks zeigen sich die verzerrende Fassungslosigkeit und das Entsetzen des Jungen, der auf Gottes Befehl von Abraham ermordet werden soll. Welches Kind würde sich einem Schicksal ergeben, bei dem es durch den eigenen Vater einen so grausamen Tod erleidet?
- Das Gesicht und die linke Hand des Engels zeigen an, dass es dem göttlichen Wesen zusteht, Mitgefühl zu zeigen. Durch seine halbgeöffneten Lippen, zusammen mit der Geste seiner beiden Hände, kommt der ausdrückliche Befehl Isaak zu verschonen.
Hier sind die drei Zugänge zu der menschlichen Idee eines Gottes in einem einzigen Bild zusammengeführt, ohne eine Lösung nach menschlichen Maßstäben aufzuzeigen. Vielmehr stellt sich die Frage, wie sich die beim Betrachter einstellenden Widersprüche in einem zeitgerechten Gottesbild auflösen lassen. Die Auflösung dieser Widersprüche ist notwendig, da jeder Zustand für sich das Zusammenleben der Menschen existentiell bedrohen kann und als Vorstellung des Bösen das Handeln mitbestimmt.
In die Bgriffe der Spiral Dynamics übersetzt haben wir es hier mit einem antiken Gott zu tun, der eine Sprache benutzte, die von den Menschen dieser Zeit verstanden wurde. Beck und Cowan – die Verfasser des gleichnamigen Buches – umschreiben diesen Gott als „viele gerechte Peinigungen“ für Ungläubige und „Befehlebrüllen“ für Gläubige. Die daraus entstehenden Gesetze führen zum blauen Wertemem, und müssen bedingungslos befolgt werden. In eine solche blaue Ordnung, die schließlich zur Verherrlichung der Herrschermacht im Barock führte, war auch Caravaggio eingebunden und gegen sie rebellierte er in seinen Bildern, aber auch in seinem Verhalten, das ihn selbst zum Gewalttäter werden ließ und der Verfolgung durch die Ordnungsmächte aussetzte.
Aus der Darstellung bedingungslosen Gehorsams speist sich der Widerwille des Betrachters, der lediglich durch die von Gott aufgezeigte Ersatzhandlung des Tieropfers besänftigt werden könnte, wenn diesem Hinweis gefolgt wird. Es bleibt jedoch die Einforderung eines Opfers bestehen und somit die unbedingte Erfüllung des göttlichen Willens.
Boehm vertritt und begründet in seinem preisgekrünten Buch die These, nicht Mose sei der Vater des Monotheismus sondern „diese Rolle kommt Abraham zu –, und die Idee, dass es unter Ausschluss aller Pseudo-Gottheiten nur einen wahren Gott gibt, ist nicht die größte intellektuelle Leistung des Monotheismus. Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist das Bekenntnis zu einer exklusiv einzigen, wahren Gottheit – um diese anschließend einer noch höheren, über ihr stehenden Gerechtigkeit zu unterwerfen. Erst mit diesem Schritt ist die universalistische Bedeutung des Monotheismus und die absolute Idee der Menschheit, die aus ihr hervorgeht, verstanden. Mose, ob er nun Jude oder Ägypter war, ist diese Innovation völlig unbekannt. Das aber ist die Frage, die Abraham bei seiner Begegnung mit der Gottheit umtreibt. Es ist Abraham, der »Vater aller Völker« und der drei monotheistischen Religionen, der die einzig wahre Gottheit herausfordert: »Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, sodass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?« Es gibt nur einen wahren Gott, doch die Autorität der universellen Gerechtigkeit steht über ihm.
Das Paradox liegt natürlich darin, dass wir bald darauf Zeuge werden, wie derselbe Abraham, der diese Worte spricht, den unmittelbaren göttlichen Befehl erhält, »deinen einzigen Sohn, den du lieb hast«, zu opfern, sprich zu ermorden. Und auf den ersten Blick verkörpert er das Modell des monotheistischen Glaubens, indem er Gottes Befehl über die Gerechtigkeit stellt – also das Universale zur Disposition stellt.
Kant ist der erste Denker in der modernen Geschichte, der Abrahams Gehorsam verurteilt. Da die Pflicht gegenüber der Menschheit universell ist, steht sie über der Autorität eines jeden Befehls, einschließlich eines Befehls der Gottheit.(Boehm , Omri. Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität | Ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024 (S.22). Ullstein eBooks. Kindle-Version.)