Deutschland im Aufruhr und Gerechtigkeit

Gerechtigkeit als Grundbedingung der Demokratie

Mit der politischen Einordnung der überraschend entstandenen Bewegung tun sich Politik und Medien schwer, da sie sich schon längst in ihren Echokammern mit leeren Phrasen verirrt haben und kaum noch in der Lage sind, die Menschen in ihren Tiefen zu erreichen. Mit dem religiösen Glauben ist ihnen auch der Glaube an ihre Politiker abhandengekommen. So wie der evangelische Theologe und Philosoph Paul Tillich die Notwendigkeit zu einer Neudefinition des Glaubens erkannte, um die Tiefe der menschlichen Existenz wieder erreichen zu können, ist eine Entwicklung des Gespürs für die Sorgen der Menschen durch Politiker erforderlich, damit sie wieder an die Worte von Politikern glauben können. Tillich hat dieses allgemeingültig in dem prägnanten Satz formuliert: „Glaube ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht“.In diesem Sinne sind die Hunderttausenden auf den Straßen und Plätzen Deutschlands in diesen Tagen ein Zeichen für das offene Bekenntnis ihres Glaubens an die Demokratie. Offensichtlich ist von führenden Politikern – die hier zu Randfiguren geworden sind –  richtig verstanden worden, dass nicht sie es sind, denen die Glaubensbekundungen gelten, sondern die Demokratie, die unmittelbar vom Volk ausgeht.

Der Begriff „Demokratie“  ist laut Wikipedia ein Begriff für Formen der Herrschaftsorganisation auf der Grundlage der Partizipation bzw. Teilhabe aller an der politischen Willensbildung. Seine sprachliche Wurzel weist auf die Herkunft aus der griechischen Antike und hat mit den heutigen Erscheinungsweisen der demokratischen Praxis nicht mehr viel zu tun. Ihm fehlt es vor allem an selbsterklärender Wirkungsmacht, da – wie die Mehrzahlform in der obigen Definition bereits sagt – die praktische Ausgestaltung im antiken Griechenland, wie auch in den heutigen Staatsformen, ein breites Spektrum aufweist, das bis hin zu autoritativen Strukturen reicht. Deshalb ist es im Sinne einer aufgeklärten Rechtfertigung demokratischer Systeme unerlässlich, sie an moralische Werte zu binden. Nur so kann ihr Wirklichkeitsgehalt ermittelt werden. Nach menschlicher Erfahrung, die bis in die kulturellen Ursprünge der westlichen Kultur zurückreicht – und in der individuellen Entwicklung des Menschen bereits im Kindesalter direkt erkannt werden kann – ist das Zusammenleben der Menschen auf Gerechtigkeit aufgebaut. Bereits in der altägyptischen Kultur war das Herrschaftssystem auf einen Begriff gegründet, der Ma’at genannt wurde und komplexer war, als es der heutige Begriff der Gerechtigkeit ist. Sie war das altägyptische Konzept für Gerechtigkeit, Weltordnung, Wahrheit, Staatsführung und Recht und wurde durch die gleichnamige Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit verkörpert. Der Ägyptologe Jan Assmann geht so weit, sie als den Zentralbegriff der altägyptischen Kultur zu bezeichnen.

Innerhalb des Erklärungssystems der Integralen Theorie ist die Gerechtigkeit eng mit der Gleichheit verbunden und im unteren linken Quadranten – in der Kultur – aktiv, wo sie diesen Quadranten bei seinen Versuchen unterstützt, zu verstehen, wie Subjekte in einem Akt gegenseitigen Verständnisses zusammenpassen. Ken Wilber hat es wie folgt verdeutlicht: „Wenn ich mit jemandem zusammenziehe, nehmen wir nicht nur denselben empirischen und physischen Raum ein, sondern auch denselben intersubjektiven Raum gegenseitigier Wahrnehmung und Anerkennung. Wir müssen nicht nur unsere Körper in denselben objektiven Raum einpassen, sondern auch unser subjektives Sein in denselben kulturellen, ethischen und moralischen Raum. Wir müssen Mittel und Wege finden, die beiderseitigen Rechte und diejenigen der Gemeinschaft anzuerkennen und zu achten, und diese Rechte sind nicht im objektiven Stoff festgeschrieben, noch sind sie einfach eine Frage meiner eigenen individuellen Aufrichtigkeit, noch eine solche des funktionellen Zusammenpassens empirischer Ereignisse, sondern vielmehr eine Frage des  Zusammenfügens unserer Seelen in einem intersubjektiven Raum, das es uns erlaubt, einander anzuerkennen und zu achten. Es kommt nicht darauf an, unbedingt immer einer Meinung zu sein, aber darauf, einander anzuerkennen – und wenn dies nicht geschieht, herrscht schlicht Krieg.

Was wir also brauchen, ist nicht nur Wahrheit, nicht nur Wahrhaftigkeit und nicht nur funktionales Passen, sondem auch Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Güte und Fairneß.

Dieser intersubjektive Raum (unser gemeinsamer Hintergrund und unsere gemeinsamen Weltsichten) ist ein wesentliches Element unseres Menschseins, ohne das es unsere individuellen subjektiven Identitäten nicht gäbe und ohne das wir keine objektiven Wirklichkeiten wahrnehmen könnten.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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