Der Sprung nach vorn
Was Deutschland und Amerika grundlegend unterscheidet, ist die Rückführung ihrer nationalen Identität auf einen Gründungsmythos. Dieser fehlt in Deutschland und es wird an Stelle des Mythos der Mangel in der Kultur – und manchmal auch in der Politik – mit dem Rückgriff auf germanische Heldensagen oder auf indogermanische und griechische Wurzeln überdeckt. Eine nationale Identität stiftet dieses jedoch nicht. Am deutlichsten wird das Heranwachsen einer deutschen Nation durch die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache dargestellt. Erst durch die von Martin Luther bis zum Jahr 1534 ins Frühneuhochdeutsche übersetzte Bibel konnte sich eine einheitliche deutsche Sprache im gesamten heutigen Gebiet Deutschlands durchsetzen. Diese Sprache entwickelte sich dann ab 1650 zum heutigen Neuhochdeutsch. Das Gebiet des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation entwickelte sich erst aus einer Vielzahl kleiner und kleinster Territorien feudaler Herrscher und näherte sich erst mit dem Deutschen Reich ab 1871 dem heutigen Staatsgebiet an. Der amerikanische Gründungsmythos ist dagegen eine Ursprungserzählung, die erst 1620 mit der Gründung einer englischen Kolonie durch die Pilgerväter begann und bis in die Gegenwart weitergeführt wird.
Gründungsmythen sind teilweise auf Fiktionen aufbaut und werden als verbindlich wahrgenommen. Sie können sowohl religiöse als auch politische Elemente enthalten. Religiöse Formen sind beispielsweise Ideen von göttlicher Offenbarung, Auserwähltheit und Mission sowie Vorsehung und Schicksal. Solche Gründungsmythen beruhen teilweise auf Glaubenshaltungen, ohne die ihr Wirkungspotential verblasst.
Als politische Mythen sind Gründungsmythen der Kitt, der ein modernes Staatswesen mit einer pluralistischen Gesellschaft zusammenhält und ein allgemeines Selbstverständnis ermöglicht. Die Funktionen von Gründungsmythen liegen in der Schaffung konsensfähiger, sinnstiftender Werte, der Erzeugung von kollektiven Identitätsvorstellungen sowie der Legitimation von Macht und Privilegien.
Der amerikanische Gründungsmythos ist die Geschichte einer kleinen Gruppe von etwa 50 Personen, die mit etwa ebenso vielen fremden Auswanderern auf der Mayflower vor religiöser Verfolgung in Europa flohen. Sie waren im September 1620 mit dem baufälligen Schiff von der englischen Hafenstadt Plymouth aus in See gestochen. Die unter der Bezeichnung „Pilgerväter“ in die Geschichte eingegangene Gruppe gehörte einer kleinen Splittergruppe von Protestanten an, die ein radikales Christentum vertrat, das ausschließlich die Bibel gelten lassen will. Als der nordamerikanische Winter bevorstand, landeten diese Puritaner und die anderen Auswanderer bei Cape Cod an der Ostküste des amerikanischen Kontinents und gründeten die Kolonie Plymouth.
Dieses war der zweite Versuch, eine englische Kolonie in der „Neuen Welt“ zu gründen. Bereits 1607 war in Virginia die Jamestown Colony entstanden, die den Beginn des Britischen Weltreichs markiert. Doch die neue Kolonie wies ihr gegenüber die Besonderheit auf, das die Puritaner von Plymouth sich vollständig von der Church of England losgesagt hatten und eine absolute Gemeindeautonomie anstrebte. Die Mitglieder dieser Gruppe glaubten, dass jede Kirchengemeinde direkt Gott bzw. Christus unterstellt sei. Ihrer religiösen Überzeugung entsprechend schlossen die Siedler einen Vertrag, den „Mayflower Compact“ der das zukünftige Zusammenleben regeln sollte. An der Spitze der Plymouth Plantation standen von den Bewohnern gewählte Kirchenvertreter. Schon in der kirchendemokratischen Ordnung dieser Puritanergemeinde ist der Kern des späteren amerikanischen Selbstverständnisses zu erkennen, zu dem individuelle Selbstbestimmung, Demokratie, Freiheit und Gleichheit gehören, Grundsätze, die im Europa der Feudalstaaten erst in der französischen Revolution durchgesetzt wurden.
Die „Pilgerväter“ sahen sich aber mehr noch als das „neue Israel„. Sie waren „Pharao’s Britain„, dem englischen Land der Knechtschaft entronnen und das neue weite Land sollte die große Alternative werden: die Stadt auf dem Berge, das Licht der Welt, der Hafen der Freiheit, lauter biblische Metaphern für eine „Nation unter Gott„. Sie sahen sich in einem historischen Moment, und waren beseelt von der Hoffnung auf das Tausendjährige Reich. Sie glaubten fest an ihre Berufung, dieses „Millenium“ verwirklichen zu sollen. Darum war für sie „Amerika“ immer mehr als nur das neue, scheinbar unendliche Land. Es war das Land, in dem sich die messianische Idee verwirklichen sollte, ein neuer Garten Eden zu werden.
Zum Selbstverständnis der USA zählt aus deutscher Sicht diese Verknüpfung von Religion und Politik. und stellt eine Besonderheit dar, die in Europa erst in den Ideen Jean-Jacques Rousseaus Gestalt annahm und heute als Zivilreligion bezeichnet wird. Sie erfordert die Trennung von Staat und Kirche, die in einem Staat mit so vielen Religionen wie in den USA unumgänglich ist, in Europa jedoch wegen der eindeutigen Dominanz der zwei christlichen Konfessionen traditionell (noch) nicht denkbar ist. Es ist daher ständige Praxis amerikanischer Präsidenten, religiöse Deutungen in ihre Reden einzuflechten. Die diesbezüglichen Unterschiede zwischen Europa und Amerika ermöglichten es Thomas Jefferson, von der „unschuldigen Nation“ zu sprechen, die sich im Gegensatz zu den verdorbenen und korrupten Staaten im „alten Europa“ befinde. Diese Sicht wird auch gerne wiederholt, wenn es um die Betonung politischer Differenzen zwischen den USA und Europa geht, wie z. B. 2003 von dem amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, als es um die von Deutschland und Frankreich offiziell abgelehnte Teilnahme am Irakkrieg ging.
Die Verbindung von Religion und Politik bringt es mit sich, dass religiöse Strömungen auch in die Politik einfliessen. Insbesondere die seit über 100 Jahren anhaltende konservative Strömung des Protestantismus in den USA, die sich selbst als „Fundamentalismus“ bezeichnet und als Reaktion auf die „Auflösungserscheinungen“ der modernen Welt entstanden ist, hat großen Einfluss auf die amerikanische Politik gewonnen. Solche fundamentalistischen Entwicklungen sind Zeichen eines Unvermögens, mit den radikalen Verunsicherungen zurechtzukommen, die sich aus den wissenschaftlichen und technologischen Veränderungen der Neuzeit ergeben.
Innerhalb dieser vielschichtigen anachronistischen Strömungen ist eine „millenarische“ Prägung des „amerikanischen Traums“ entstanden, die sich mit paranoiden Endzeitspekulationen trifft, welche eine noch ältere Tradition haben und ebenfalls auf religiösem Boden entstanden sind. In diesem geistigen Milieu wirken solche Fluchtgedanken, wie die von Elon Musk propagierte Auswanderung auf den Mars durchaus als vernünftiges Kalkül in kapitalistischem Sinne.
Gibt es in dieser Geschichte einen dramatischen Höhepunkt, von wo die Spannung abfällt? Mir scheint, dass dieser Höhepunkt erreicht ist. Das grüne Wertemem kann wahrscheinlich nicht weiter wachsen, ohne blaue Gegenkräfte zu aktivieren, die sich bereits im Wertespektrum von Trump und Clinton zeigen. Bei Clinton ist darüber hinaus auch ein heranwachsender roter Einfluss zu sehen, der von manchen Beobachtern als militärische Option im Hinblick auf die Außenpolitik gedeutet wird. Es kann jedoch durchaus auch von hier ein Abbau grüner „Wohltaten“ erfolgen – sowohl als Folge militärischer Engagements im Ausland, wie auch durch private Initiativen im Sinne des Förderns und Forderns.
Zum Kern des amerikanischen Problems dringt man nach meiner Überzeugung nur durch, wenn man die „Stadt auf dem Berge“ als Metapher ernst nimmt und auf ihr transzendierendes Potential prüft. Am Anfang sollte dabei die ganze Geschichte des Gründungsmythos gesehen werden, nämlich auch die Tatsache, dass die Kolonie der Pilgerväter auf einer Siedlung der Indianer errichtet wurde, die durch eingeschleppte Seuchen der Europäer dezimiert worden waren und deren Überlebende sich in das Landesinnere zurückgezogen hatten. Von der Versorgung durch diese Indianer hing das Überleben der Pilgerväter in der winterlichen Landschaft von Massachusetts ab. Leider wurde die von den Indianern gezeigte Freundlichkeit nicht erwidert, sondern schon bald mit Forderungen quittiert, denn in den religiösen Thesen des Puritanismus stehen religiöse Toleranz und religiöse Vielfalt nicht auf der Agenda. Dagegen ergeben sich aus den demokratischen Prinzipien, den regionalen Regierungen und der Tradition von Stadtparlamenten durchaus Möglichkeiten einer Erneuerung des Gründungsmythos.