Rechtzeitig zum Beginn eines neuen Abschnitts der deutschen Demokratiegeschichte mahnte die Wirtschaft wieder einmal den notwendigen Abbau der Bürokratie an. Das Münchener Ifo-Institut gab im Januar die Ergebnisse einer Umfrage bei rund 900 Firmen bekannt, die es im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen durchgeführt hatte. Für fast 40 Prozent der befragten Firmen hatte der Bürokratieabbau die höchste Priorität. An nächster Stelle stand mit 30 Prozent der Wunsch nach Maßnahmen, um die Energiepreise zu senken, gefolgt von der Forderung nach Steuersenkungen. Bei diesem Thema können alle Interessengruppen sicher sein, bei Politikern, Unternehmern, Verbandsvertretern, Wählern, Journalisten – ja selbst bei Bürokraten – auf positive Resonanz zu stoßen. Für Bundeskanzler Olaf Scholz stellte die Bürokratie ein »über Jahrzehnte gewachsenes Dickicht«, für seinen Finanzminister Christian Lindner ein »Monster« und für den Wirtschaftsminister der Ampelkoalition, Robert Habeck, einen »Berg von Vorschriften« dar. Der CDU-Chef und Bundeskanzler Friedrich Merz sagt, »unser Land erstickt in Bürokratie«. Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla ruft dazu auf, den »Bürokratie-Irrsinn« zu beenden. Entsprechende Schlagzeilen in der Presse lauten: »Wie Bürokratie die Energiewende bremst« (Handelsblatt), »Die Bürokratie befeuert die Bauflaute« (WirtschaftsWoche), »Familienunternehmen ächzen unter Bürokratie« (FAZ), »Bürokratie ist DER Jobkiller« (Bild). Die Wochenzeitung DIE ZEIT fragt schließlich: „Wenn sich aber alle so einig sind, dass Bürokratie etwas Schädliches ist, weshalb gibt es sie dann überhaupt? Warum wächst sie immer weiter? Und ist sie wirklich so schlimm?“
In diesem Beitrag möchte ich mögliche Antworten auf diese Frage finden und den Zusammenhängen auf den Grund gehen. Bereits daraus, dass nahezu jeder eine distanzierte Haltung gegenüber dem Phänomen Bürokratie einnimmt, lässt grundlegende systemische Bedeutungen vermuten. Eine erste Überprüfung hierzu stellt das Google-Ngram in der folgenden Grafik als Bedeutungsfeld verwandter Begriffe dar.
Alle in der Grafik aufgeführten Begriffe haben als Personen (Beamte, Angestellte, Soldaten), räumlich-gegenständlich (Computer, EDV, Büro) Beziehungen zum abstrakten (funktionalen) Begriff Bürokratie. Dabei ergibt sich eine sehr enge Beziehung zwischen Computer und EDV von 1950 bis etwa 1980. Ab diesem Jahr steigt der Gebrauch des Wortes Computer – und vermutlich damit auch die Verwendung des Computers – steil an und erleidet Ende der 1980er Jahre einen jähen Einbruch. Dieser Rückgang erklärt sich aus einem Konkurrenzverlust des allgemeinen und zusammenfassenden Begriffs zugunsten spezifischerer, marken- oder funktionsorientierter Begriffe wie „PC“, „Mac“ oder „Laptop“. Ab Mitte der 1990er Jahre setzte ein Rückkehr-Effekt des Wortes „Computer“ ein, der sich mit einem generalisierenden Sprachgebrauch erklären lässt. Hierin drückt sich nun die neue gesellschaftliche Allgegenwart der Technik sprachlich aus und könnte als Siegeszug des Computers bezeichnet werden. Der Computer wurde vom Spezialgerät (Großrechner, Heimcomputer) zum Alltagsgegenstand und war ab nun in Schulen, Büros, Universitäten und privaten Haushalten zu sehen. Damit erreichte er eine tiefe gesellschaftliche Durchdringung, die zunehmend auch kritisch gesehen wird. Dem Begriff EDV kommt demgegenüber ab Mitte der 1980er Jahre mehr und mehr Bedeutung im Zusammenhang mit der Bürokratie zu und deutet damit auch auf eine Verengung des Begriffs Bürokratie hin.
Für den historischen Verlauf des Gesamtfeldes ist festzustellen, dass die Begriffe Beamter, Angestellter und Soldat historisch gesehen die längere Geschichte erzählen als alle anderen genannten Begriffe. Dabei zeigt sich für Beamte über die Zeit gesehen der stabilste Verlauf, gefolgt von den Angestellten und den Soldaten, bei letzteren zeichnen sich die beiden Weltkriege deutlich als Hochzeiten ab. Bemerkenswert ist die ab etwa 1980 stattfindende Bündelung von Bürokratie, EDV, Soldaten, Beamten, und Angestellten, während sich Büro und Computer unabhängig davon weiter steigern. Allerdings ist die oben festgestellte tiefe Durchdringung der Gesellschaft durch Computer nicht im gleichen Mass für das Büro festzustellen. Der stärkere Gebrauch von „Computer“ im Vergleich zu „Büro“ erklärt sich aus der kulturellen Aufladung, thematischen Vielseitigkeit und symbolischen Strahlkraft des Begriffs. „Computer“ ist ein Wort für Zukunft und Wandel – „Büro“ hingegen bleibt ein funktionaler, weniger spannungsgeladener Alltagsbegriff.
Die genauere Betrachtung der Bürokratie muss über die Geschichte und die sich daraus abzeichnenden Querbezüge zu anderen Begriffen des Bedeutungsfeldes ergeben. Das Wort selbst entstand im 18. Jahrhundert aus der Kombination des französischen Wortes bureau (Schreibtisch, Amt) und der griechischen Endung –kratie (Herrschaft). Wörtlich also die „Herrschaft des Schreibtisches“ oder „Herrschaft der Verwaltung„. Theoretisch beschrieben und als Begriff geprägt wurde es vom deutschen Soziologen Max Weber in seinem 1921/22 veröffentlichten Werk „Wirtschaft und Gesellschaft„. Ihre praktische Existenz ist jedoch bis in die chinesische Qin-Dynastie (221–206 v. Chr.) zurückzuverfolgen.
Der erste Kaiser von China, Qin Shi Huangdi, einte das Reich und schuf einen zentra-listischen Staat. Um dieses riesige Reich zu verwalten, wurde ein streng hierarchisches System von Beamten eingeführt. Diese Beamten (Mandarine) wurden nicht nach Geburt, sondern nach Leistung (bestandene Prüfungen) ausgewählt. Sie verwalteten das Reich nach festen, schriftlichen Regeln und Vorschriften.
Das war die erste historisch dokumentierte Verwaltung, die die wesentlichen Merkmale einer Bürokratie, wie sie von Weber definiert wurde, aufwies: Hierarchie, Schriftlichkeit, Fachkompetenz und Regelgebundenheit. Es war die Geburtsstunde der Bürokratie als Verwaltungspraxis. Im einzelnen umfasst sie
- Hierarchie: Klare Befehls- und Kontrollstruktur.
- Schriftlichkeit: Alles wird schriftlich festgehalten.
- Fachkompetenz: Beamte werden aufgrund ihrer Qualifikation eingestellt und nicht aufgrund von Beziehungen.
- Regelgebundenheit: Handeln erfolgt strikt nach allgemeinen, unpersönlichen Regeln und Vorschriften.
- Unpersönlichkeit: Entscheidungen werden ohne Ansehen der Person getroffen.
- Vollberuflichkeit: Die Verwaltungstätigkeit ist ein Hauptberuf.
Für Weber war diese „rationale“ Bürokratie der Dampfhammer, der die feudale, willkürliche Herrschaft alter Eliten ablöste und die Grundlage für den modernen Staat bildete. Er sah sie als überlegen an, warnte aber auch bereits vor ihren negativen Seiten: der Entmenschlichung und dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit„. Kritik ist damit also vorprogrammiert und der seinerzeit gerade entstehenden Demokratie der Weimarer Republik geschuldet. Wer in unqualifizierter Weise Kritik an der Bürokratie übt, legt die Axt an die Wurzeln des demokratischen Staates und leistet dem Obrigkeitsstaat vorschub. Kritik muss sein – aber bitte konstruktiv und qualifiziert und nicht in Stammtischmanier und populistisch dröhnend in Wahlkampfauftritten.
In Grafik 2 sind die Bedingungen des Zeitgeistes und dessen Wirkungen auf die Rolle der Bürokratie dargestellt. Die Fähigkeit zur Kooperation ist eine Grundbedingung für die Evolution, Fortschritt und Bürokratie sind unmittelbare Folgen von ihr.
Das Ngram zeigt nicht nur sprachliche Trendwenden, es ist gleichzeitig ein Spiegel gesellschaftlicher Evolution. Eine Analyse der Wortfrequenzen im Google Ngram zeigt: Die Begriffe „Fortschritt“, „Kooperation“ und „Bürokratie“ – die klassischen Treiber der Nachkriegsmoderne – erfahren ab etwa 1972 einen deutlichen Bedeutungsverlust, der sich um 2008 in einen regelrechten Absturz fortsetzt. Parallel verändert sich auch die Semantik von „Evolution“, die zunehmend biologisch-technisch statt gesellschaftlich gelesen wird. Diese sprachliche Verschiebung verweist auf einen tieferliegenden Wandel im Selbstverständnis der Gesellschaft.
Der Bericht des Club of Rome (1972) „Grenzen des Wachstums“ markierte hier symbolisch das Ende der ungebrochenen Fortschrittsgläubigkeit. Während zuvor Kooperation und Bürokratie als Garanten der Steuerbarkeit galten, tritt nun die Idee auf, dass Wachstum und Fortschritt endlich seien. Die Sprache spiegelt diesen Bruch: Die alten Begriffe verlieren an Attraktivität, Skepsis und Kritik gewinnen an Gewicht.
Die Kurvenverläufe spiegeln auch die gesellschaftstheoretische Deutung durch bedeutende Intellektuelle wie Niklas Luhmann (Systemtheorie), Jürgen Habermas (Legitimation und Kommunikation) und Ulrich Beck (Risikogesellschaft) wider.
Bis 1970 herrschte die Vorstellung einer steuerbaren Gesellschaft vor. Kooperation und Bürokratie stehen für planbare Integration. Luhmanns Systemtheorie rückt dagegen die Eigenrationalität funktionaler Systeme (d. h. Vernunftgeleitet: Entscheidungen werden auf Basis des Verstandes und nicht von Emotionen getroffen) in den Vordergrund. Kooperation ist keine Lösung, sondern nur eine Kommunikationsform; Bürokratie ein Subsystem mit Eigendynamik. Die Sprache vollzieht den Abschied von der Steuerungsillusion nach.
Habermas zeigt in seinem Buch „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ (1973), dass Fortschritt und Kooperation nicht nur Integration schaffen, sondern auch Legitimationsdefizite offenlegen. Bürokratie und korporative Kooperation geraten so in Verdacht, demokratische Transparenz zu untergraben. Statt Steuerung rückt Kommunikation und Verständigung als gesellschaftliches Paradigma in den Vordergrund.
Ulrich Beck beschreibt den Übergang zu einer Neuinterpretation der Moderne – der reflexiven Moderne, die systematisch Risiken erzeugt. Damit verlieren Kooperation und Bürokratie auch das Vertrauen als Problemlöser und erscheinen selbst als Teil der Gefahrenproduktion.
Ab 2008 verstärkt sich diese Dynamik, Finanzkrise, Klimakrise und Digitalisierung machen „Unsicherheit“ und „Risiko“ zu Leitbegriffen. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise bricht das Vertrauen in internationale Kooperationen, bürokratische Steuerung und Fortschrittsnarrative nochmals drastisch ein. Sprachlich wird dies sichtbar in einem Absturz der Wortverwendung der entsprechenden Begriffe.
Es kann somit festgestellt werden, das die sprachliche Entwicklung der Begriffe „Fortschritt“, „Kooperation“ und „Bürokratie“ kein Zufallsphänomen ist, sondern Ausdruck einer Differenzierung der Gesellschaft in die drei theoretisch formulierten Phasen, die hiermit empirisch nachvollziehbar geworden sind:
- Nachkriegsmoderne (1945–1972): Glaube an Steuerbarkeit durch Fortschritt und Organisation.
- Reflexive Moderne (1972–2008): Erosion dieser Leitsemantik, Aufstieg von Kritik, Kommunikation und Risiko.
- Krisenmoderne (seit 2008): Marginalisierung klassischer Entwicklungsbegriffe, Dominanz von Unsicherheitsdiskursen.
Damit zeigen die Ngram-Kurven nicht nur Sprachwandel, sondern spiegeln die Transformation gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen im Sinne von Luhmann, Habermas und Beck. Eine Fortschreibung dieser Entwicklung bis in die Gegenwart ist in vergleichbarer Weise nicht möglich, da Google hierfür keine Möglichkeit bietet. Dennoch erscheint es nicht zuweit hergeholt, wenn die gegenwärtigen Kriege, Autokratien, Strafzölle, Klimaschutzignoranzen und wirtschaftlichen Abschottungen als Fortsetzungen der Krisenmoderne gelesen werden.

