„Evolution hat Richtung.
Damit ist der berühmte evolutionäre Zeitpfeil gemeint, der zwar in der Biosphäre entdeckt wurde, aber von den Komplexitätswissenschaften inzwischen allen drei großen Domänen der Evolution zugeschrieben wird. Der Richtungscharakter besteht nach übereinstimmenden Aussagen in zunehmender Differenzierung, Vielgestaltigkeit, Komplexität und Organisation. Es wird gut sein, wenn wir aus verschiedenen Quellen die wichtigsten Indikatoren solch eines Richtungscharakters zusammentragen und sie kurz betrachten.
Wie wir bereits gesehen haben, ist Evolution durch schöpferische Emergenz (Neuartigkeit), Symmetriebrüche Selbsttranszendenz und zunehmende Tiefe gekennzeichnet (und durch wachsendes Bewusstsein worauf wir später zurückkommen)./em Wenn man von der Möglichkeit der a Regression RegressionRegression, Auflösung und a Stagnation StagnationStagnation einmal absieht, wären als weitere Richtungstendenzen noch zunehmende Komplexität zunehmende Differenzierung / Integration zunehmende Organisation / Strukturierung und zunehmende relative Autonomie zu nennen.
Zunehmende Komplexität
Jantsch sagt sehr klar, was darunter zu verstehen ist:
„Die Evolution des Universums ist die Geschichte der Entfaltung von differenzierter Ordnung oder Komplexität. Entfaltung ist nicht dasselbe wie Aufbau. Aufbau betont Struktur und beschreibt die Entstehung hierarchischer Ebenen durch Zusammenschluss »von unten nach oben«. Entfaltung hingegen bedeutet das Ineinander-Weben von Prozessen, die zu Strukturaktionsphänomenen auf verschiedenen hierarchischen Ebenen gleichzeitig führen. Evolution wirkt im Sinne einer gleichzeitigen und wechselseitig abhängigen Strukturierung der Makro-und Mikrowelt. Komplexität entsteht aus der gegenseitigen Durchdringung von Prozessen der Differenzierung und Integration …“ (Jantsch, zitiert nach Wilber)
„Das bedarf freilich einer Einschränkung. Laszlo macht darauf aufmerksam, dass das Emergieren einer neuen Stufe der Komplexität auch eine neue Einfachheit mit sich bringt, weil das neue Ganze als Ganzes einfacher ist als seine vielen Teile. Daher, so Laszlo, »ist das Emergieren eines Systems höherer Ordnung …eine Vereinfachung der Systemfunktion«. Er fährt fort:
Sobald jedoch eine neue hierarchische Ebene emergiert ist, zeigt sich bei den Systemen der neuen Ebene eine Tendenz, immer komplexer zu werden. Auf der atomaren Evolutionsebene beispielsweise ist Wasserstoff das erste im Verlauf der kosmischen Evolution synthetisierte Element, von einfacherem Aufbau als die später synthetisierten schwereren Elemente. Auf einer höheren Organisationsstufe ist ein Wassermolekül einfacher als ein Eiweißmolekül; auf einer noch höheren Organisationsstufe ist ein einzelliger Organismus weniger komplex als ein vielzelliger …Daher bedeutet eine neue Organisationsebene zwar eine Vereinfachung der Systemfunktion und der entsprechenden Systemstruktur, bringt aber auch eine Zunahme der strukturellen und funktionellen Komplexheit in Gang.
„Zunehmende Differenzierung / Integration“
Dieses Prinzip wurde in der Moderne erstmals von Herbert Spencer formuliert (in First Principles, 1862): Evolution ist »der Übergang von einer unbestimmten, inkohärenten Homogenität zu einer bestimmten, kohärenten Heterogenität durch kontinuierliche Differenzierungen und Integrationen« (aufgrund dieser Definition wurde der Begriff »Evolution« bei den Biologen bald beliebter als Darwins »Abstammung mit Abwandlung«). Und Jantsch haben wir ja bereits zitiert: »Komplexität entsteht aus der gegenseitigen Durchdringung von Prozessen der Differenzierung und Integration.«
Differenzierung erzeugt Teilheit oder neue Vielheit, Integration erzeugt Ganzheit oder neue Einheit. Und da Holons Ganze / Teile sind, werden sie durch das Zusammenwirken von Differenzierung und Integration geformt.
Es liegt auf der Hand, dass Differenzierung notwendig ist für die Neuartigkeit und Vielgestaltigkeit, welche die Evolution hervorbringt, aber ebenso wichtig ist Integration, da sie die Vielheit in Einheit überführt – das Regime oder Muster eines Holons ist seine integrative Kohärenz. Daher Whiteheads Anschauung (hier in den Worten eines seiner Kommentatoren), dass »der Grundcharakter des gesamten Universums in einem Drang nach endlosen neuen Synthesen [Integrationen] besteht«. Whitehead nannte diesen Drang »Kreativität«, die »ewige Aktivität«, »die allem zugrundeliegende Energie der Verwirklichung« -»und nichts entgeht ihr«. Daher auch Whiteheads grundstürzender Satz: »Die Vielen [Differenzierung] werden Eines [Integration] und um eins [das neue Holon] vermehrt.«
Die beiden Prozesse sind in der Physiosphäre klar zu erkennen: Atome integrieren differenzierte Teilchen, Moleküle integrieren differenzierte Atome; ebenso in der Biosphäre zum Beispiel in der fortschreitenden Differenzierung der Zygote und der fortschreitenden Integration der Differenzierungsprodukte zu Geweben, Organsystemen, Organismen. Aber wir finden sie auch überall in den Wissenschaften der Noosphäre sogar in der Psychoanalyse. Die beiden wegbereitenden psychoanalytischen Entwicklungspsychologen Gertrude und Rubin Blanck beispielsweise haben überzeugend dargelegt, dass der Aggressionstrieb der Trieb zur Differenzierung und Eros der Trieb zur Integration ist – und dass Unterdrückung in beiden Fällen ernste pathologische Zustände nach sich zieht …
Und jenseits all der Aufregung, die es um Derridas Begriff der »Differance« – »die substantivierte Form der beiden Verben ›differencier‹ (Unterschiede setzen) und ›differer‹ (aufschieben)« – gegeben hat (manche Kritiker wollten mit Hilfe dieses Begriffs alles dekonstruieren, was ihnen nicht passte), definiert Derrida selbst ihn ganz einfach als »Differenzierungsvorgang«. Bevor Kommunikation überhaupt anfangen kann, müssen die an ihr beteiligten Parteien zunächst einmal differenziert sein, ja sie existieren vor diesem Differenzierungsvorgang nicht einmal als solche. Damit ist Differance ein Teil jener »ewigen Aktivität« des Schöpferischen eine dynamische Kraft des Ins-Sein-Bringens – »sie besitzt Impulskraft, die Kraft der Artikulation und Differenzierung«. Daher kann einer seiner Kommentatoren sagen: »Die dynamische Differenz, die das Merkmal der Wirklichkeit ist, bildet für Derrida auch die Natur der Sprache. So kann die Sprache vermöge des in ihr angelegten Differenzierens als Mittel der Verwirklichung fungieren …die Sprache hat Teil an der Wirklichkeit, die sie bekundet …am dynamischen Werden der Wirklichkeit selbst.« Doch das Differenzieren bedeutet auch Integration und Synthese – oder wie Derrida sagt: »Das Spiel der Differenzen setzt in der Tat Synthesen und Verweise voraus …«
Dieses Spiel differenzierender und integrierender Kräfte ist der Hintergrund für Derridas Kritik der »Präsenz«, an der etwas sehr Wesentliches deutlich wird:
Das Spiel der Differenzen setzt in der Tat Synthesen und Verweise voraus, die es verbieten, dass zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und nur auf sich selbst verwiese. Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache. Aus dieser Verkettung folgt, dass sich jedes Element …aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert …Es gibt nichts, weder in den Elementen noch im System, das irgendwann oder irgendwo einfach anwesend oder abwesend wäre.
Anders gesagt, es gibt nichts, was nicht ein Holon wäre, ein Kontext in einem Kontext in einem Kontext. Man kann nicht auf irgendein Ding zeigen und sagen, es sei nur das und sonst nichts, denn jedes Holon ist auch SuperhoIon und zugleich Subholon: Es ist, über Raum und Zeit, aus anderen Holons zusammengesetzt und hat Teil an der Zusammensetzung wieder anderer Holons; nichts ist je einfach präsent.
Was das Zusammenwirken von Differenzierung und Integration in der Noosphäre angeht, so bleiben, wie Habermas sagt, »die verschiedenen Lebenswelten, die aufeinanderprallen, nicht verständnislos nebeneinander stehen. Als Totalitäten folgen sie dem Sog ihres Universalitätsanspruchs und arbeiten ihre Differenzen so lange aneinander ab, bis die Verständigungshorizonte, wie Gadamer sagt, miteinander ›verschmelzen‹ «. Allenthalben sehen wir dieses doppelte Wirken von Ausdehnung und Verdichtung denn: »Jetzt vollziehen sich das Reflexivwerden der Kultur, die Generalisierung von Werten und Normen, die zugespitzte Individuation der vergesellschafteten Subjekte, jetzt steigern sich kritisches Bewusstsein, autonome Willensbildung, Individuierung, verstärken sich also die einst der Praxis von Subjekten zugeschriebenen Rationalitätsmomente unter Bedingungen eines immer weiter und immer feiner gesponnenen Netzes sprachlich erzeugter Intersubjektivität.« Und all das »bedeutet Differenzierung und Verdichtung zugleich – die Verdichtung der schwebenden Textur eines Gespinstes aus intersubjektiven Fäden, welches die immer schärfer ausdifferenzierten Bestandteile der Kultur der Gesellschaft und der Person gleichzeitig zusammenhält«.
Ein immer weiter und immer feiner gesponnenes Netz, das ist die entscheidende Formulierung: nicht nur Ausweitung, sondern auch Verdichtung; nicht nur zunehmende Spanne sondern auch zunehmende Tiefe.
Kommen wir schließlich noch zu Foucault, der mit seinem »archäologischen Holismus« den Standpunkt vertritt, »dass durch das Ganze festgelegt ist, was auch nur als mögliches Element gelten kann. Der sprachliche Gesamtinhalt ist grundlegender und daher mehr als die Summe seiner Teile. Es gibt Teile überhaupt nur in dem Feld, das sie identifiziert und individuiert« – oder eben differenziert und integriert. (Und hier ist gleich noch anzumerken, dass Foucault seine »Archäologie« als einzigen methodischen Ansatz schließlich eben deshalb aufgab, weil sie nur ein Teil des größeren Holons vielgestaltiger sozialer Praxis ist – nicht Ganze, sondern Ganze / Teile.)
Evolution verlangt also sowohl Differenzierung als auch Integration, und in der Tat treten die beiden normalerweise, das heißt in gesunden Holarchien, gemeinsam auf, weshalb ich meist Differenzierung / Integration schreibe. Als Gegensätze oder völlig gegenläufige Tendenzen erscheinen sie nur in der Flachland-Ontologie, für die ein Mehr des einen zwangsläufig ein Weniger des anderen bedeutet. Im vieldimensionalen Kosmos jedoch ist ein Mehr des einen auch ein Mehr des anderen. Sie wirken Hand in Hand, eine Dialektik der Tiefe eingehend, um endlos neue Ganze / Teile oder Viele / Eines oder Holons hervorzubringen.
Organisation / Strukturierung
»Die weitere Evolution des Suprasystems bringt immer weiter fortschreitende Komplexität auf dieser Systemebene mit sich und führt schließlich zur Bildung von Hyperzyklen, die es auf das nächste Organisationsniveau heben. So schreitet die Evolution von einfacheren zu komplexeren Systemtypen und von niedrigeren zu höheren Organisationsstufen fort.«/Das findet in der Evolutionsbiologie seinen Ausdruck beispielsweise in der Unterscheidung von »Abstammungszweig« und »Abstammungsgrad«: »Eine Gruppe von Arten mit einem rezenten gemeinsamen Ahnen bildet einen Abstammungszweig; eine Gruppe von einheitlichem Niveau struktureller Organisation bildet einen Abstammungsgrad.« Grad ist natürlich ein anderer Ausdruck für Tiefe.
Zunehmende relative Autonomie
Dieser Begriff gibt immer wieder Anlass zu Missverständnissen. Er bezeichnet einfach die Selbsterhaltungsfähigkeit eines Holons unter wechselnden Umweltbedingungen -»relative Autonomie« ist ein anderer Ausdruck für »Agenz«. Die Komplexitätswissenschaften sagen nun, dass die relative Autonomie eines Holons um so größer ist, je mehr Tiefe es besitzt. Damit ist nicht größere Widerstandskraft oder Haltbarkeit gemeint – Steine sind dauerhafter als Würmer -, sondern eine größere Flexibilität angesichts wechselnder Umweltbedingungen. Ein Fuchs kann seine innere Temperatur unter unterschiedlichsten Witterungsbedingungen relativ konstant halten, während die Temperatur eines Steins sich stets der Temperatur seiner Umgebung anpasst.
Wenn wir, im Menschen, die Noosphäre erreichen, ist die relative Autonomie soweit ausgeprägt, dass sie nicht nur die notwendige Differenzierung von der Umwelt bewirken kann, sondern auch eine Dissoziation die eine katastrophale Diskrepanz schafft – Ausdruck einer pathologischen Agenz die uns unter manch anderem auf ökologischen Kollisionskurs gebracht hat….
Autonomie ist deshalb immer nur relativ, weil es keine Ganzen, sondern nur Ganze / Teile gibt. Als Ganzes besitzt ein Holon eine gewisse Autonomie, die als sein Selbsterhaltungsvermögen zum Ausdruck kommt, als ein dauerhaftes Muster, das auch seine Identität darstellt. Es besitzt also Kohärenz und Identität in Raum und Zeit (sonst hört es einfach auf zu existieren), und deshalb ist Autonomie praktisch gleichbedeutend mit Agenz, Regime, Kodex, Kanon, Tiefenstruktur. Als Teil jedoch unterliegt jedes Holon samt seiner Autonomie dem Einfluss größerer Kräfte und Systeme, in denen es nur den Status einer Komponente hat. Das ändert nichts an seinem Grundmuster, an dem Regime, das seine Identität ausmacht, aber es ist dadurch allerlei Einschränkungen und Bedingungen unterworfen, die seine Ausdrucksmöglichkeiten beeinflussen, und in mancher Hinsicht muss es die Initiative an übergeordnete Regimes abgeben: Wenn zum Beispiel mein Land einen Krieg erklärt, hänge ich mit drin, ob es mir gefällt oder nicht.
Noch einmal also: Alle Agenz ist Agenz in Kommunion (Maturana und Varela erfassen das sehr schön in ihrem Begriff der »strukturellen Koppelung« : Die Agenz eines biologischen Systems ist relativ autonom, doch die Form dieser Autonomie evolvierte in struktureller Koppelung mit dem Umfeld; die gegenwärtige Agenz des Systems ist also das Resultat evolutionärer Kommunionen). Deshalb hat Autonomie, wie alles andere an einem Holon, etwas Gleitendes: Ein Holon ist relativ autonom gegenüber seinen Junior-Holons und relativ gehorsamspflichtig gegenüber seinen Senior- Holons.
Dieses Prinzip macht auch den Unterhaltungswert postmoderner poststrukturalistischer Spiele aus. Sie bestehen darin, dass man anerkannte Autonomie umzustoßen versucht, indem man auf größere Kontexte aufmerksam macht, die eigentlich die angebliche Autonomie der isolierten Einheit bestimmen; diese wird dann prompt für tot erklärt (Tod des Schriftstellers, Tod des Subjekts, Tod des Patriarchats, Tod des mythischen Gottes, Tod des Ich, Tod der Rationalität, Tod des Logozentrismus etc.), und im nächsten Schritt ist die Autonomie oder Systemstruktur des größeren Kontexts selbst wieder bloß ein Teil von …Das Spiel geht unaufhörlich weiter, bis unser Autor müde wird oder doch zu einer Ideologie Zuflucht nimmt. Nur dadurch kommt das Spiel endlich zum Erliegen; in der Wirklichkeit selbst ist nichts, was dem Gleiten je Einhalt gebieten könnte, denn Kontexte sind grenzenlos.
Natürlich gehört die »Dezentrierung« für autonom gehaltener Einheiten zu den wichtigen Wahrheiten postmoderner Kritik, und wir werden in diesem Buch immer wieder darauf zurückkommen. An dieser Stelle nur ein paar Beispiele: Das autonome Ich der Aufklärung ist gar nicht so autonom, weil es in den Kontext seiner eigenen organischen Triebe eingebunden bleibt (so die psychoanalytische Kritik der Aufklärung), und diese unbewussten Triebe müssen erst integriert werden, bevor es zu echter Autonomie kommen kann. Aber sogar die ganze integrierte und autonome Person der Psychoanalyse ist nicht wahrhaft autonom, denn diese Person steht im Kontext sprachlicher Strukturen die – in eigener Autonomie – Bedeutung festlegen, ohne dass die Person auch nur etwas davon weiß (so die von Strukturalismus und »Archäologie« geäußerte Kritik). Doch selbst sprachliche Strukturen sind so autonom auch wieder nicht, denn sie existieren nur im Kontext vorsprachlicher Weltanschauungen die sich der Sprache bedienen, ohne dass es der auch nur auffiele (Heideggers und Gebsers Kritik). Und auch Weltanschauungen sind nur Bestandteile im großen und dichten Geflecht gesellschaftlicher Praxis (wie Marx, Habermas und der spätere Foucault jeder auf seine Weise aufgezeigt haben). Und schließlich würden Denker wie Kierkegaard, Schelling oder Hegel sagen, dass alle gesellschaftliche Praxis nur im größeren Kontext des GEISTES und durch ihn existiert.
In allen Fällen sagen diese Denker, indem sie unser Dasein in einen größeren Kontext stellen, uns etwas über Sinn oder Bedeutung unseres Daseins – denn Bedeutung und Kontext sind in gewisser Weise synonym. Auf jeder nächsttieferen Stufe unserer Beispielsammlung bekommt das Dasein eine größere oder tiefere Bedeutung, weil bis dahin verborgene Kontexte aufgedeckt werden, die den für sicher gehaltenen Boden der Autonomie aufweichen und uns weitere und größere Kommunionen vor Augen halten, in denen wir leben, weben und sind.
Und in gewissem Sinne haben alle Denker dieser verschiedenen Stufen recht. Das Ich existiert wirklich im Kontext des Gesamtorganismus und seiner Triebe; dieser existiert im Kontext einer sprachlich erschlossenen Welt, der wieder im übergreifenden Geflecht sozialer Praxis, welches schließlich im GEIST seinen Ort hat. Das ist die Holon-Natur – Kontexte in Kontexten in Kontexten. Und immer wenn wir solch einen weiteren oder tieferen Kontext ausmachen, sehen wir zugleich, dass ein Holon hier neue Bedeutung bekommt, denn der größere Kontext teilt seinen Holons eine Bedeutung mit, die sie selbst, in ihrem Fürsichsein, nicht haben und nicht haben können.
Zugleich stellt die Entdeckung neuer und tieferer Kontexte und Bedeutungen aber eine Aufgabe: Wir müssen unseren Blickwinkel verändern, unsere Wahrnehmung vertiefen – und das häufig gegen starke Widerstände -, damit wir uns den tieferen und weiteren Kontext zu eigen machen können. Kontextwechsel ist ein häufig schmerzhafter Wachstumsprozess in dem das Ich dem seichteren Kontext stirbt, um einem tieferen wiedergeboren zu werden. Doch eben deshalb nimmt mit einem solchen Kontextwechsel unsere relative Autonomie zu, denn in der tieferen Wahrnehmung, die wir uns zu eigen gemacht haben, finden wir größere Freiheit.
Wir werden all das im weiteren Verlauf erörtern. Die schlichte Aussage dieses Abschnitts besteht darin, dass Autonomie zwar stets relativ ist, diese relative Autonomie aber mit der Evolution zunimmt – der Fuchs und der Stein. Das ist deshalb so, weil im Verlauf der Evolution immer mehr äußere Kräfte, die auf ein Holon einwirken, durch »Aufhebung« (oder Transzendierung und Inklusion) zu inneren, mitwirkenden Kräften werden. Es identifiziert sich mit größeren Kontexten und findet dadurch größere Freiheit. Wir werden das noch an zahlreichen Beispielen betrachten können.
Zunehmendes Telos
Was wir Regime, Kodex, Kanon oder Tiefenstruktur eines Holons genannt haben, wirkt wie ein Magnet oder Attraktor oder (Etappen-)Omega-Punkt für die Verwirklichung dieses Holons in Raum und Zeit. Der Endpunkt eines physikalischen, biologischen oder mentalen Systems übt gleichsam einen Zug auf das Holon aus, so dass es sich in diese Richtung entwickelt.
Das wurde von der Wissenschaft weitgehend übersehen, solange sie im wesentlichen auf das Studium von Steinen in Bewegung aus war, aber sogar in der Physiosphäre bestimmt die Entelechie (Regime, Kanon, Tiefenstruktur, morphogenetisches Feld) eines Holons – ob sie von einer Elektronenwolke oder von einem chaotischen Attraktor komplexer Systeme ausgeht – die endgültige Form der Verwirklichung dieses Holons. »Dem in der gegenwärtigen dynamischen Systemtheorie vorherrschenden geometrischen Denken zufolge sind die Attraktoren die prägenden Züge dynamischer Systeme: sie kennzeichnen das langfristige Verhalten des Systems. Dynamische Systeme evolvieren von einem gegebenen Anfangszustand aus gemäß den Gesetzen der Evolution entlang einer charakteristischen Bahn von Systemzuständen. Das führt schließlich zu einem erkennbaren Muster, durch welches das System auf seiner Bahn gleichsam eingefangen wird.«
Wenn die Folge der Systemzustände einen Ruhepunkt erreicht, bedeutet dies, dass ihre Evolution von einem statischen Attraktor geleitet ist. Wenn diese Folge einen zyklischen Verlauf mit klar erkennbarer Periodizität hat, steht das System unter dem Einfluss eines periodischen Attraktors. Hat aber die Bahn der Systemzustände weder einen Ruhepunkt noch Periodizität, sondern bleibt sehr unregelmäßig so ist dafür ein sogenannter chaotischer Attraktor verantwortlich.
»In den letzten Jahren ist chaotisches Verhalten an allen möglichen natürlichen Systemen entdeckt worden, und bei der Entwicklung mathematischer Modelle für solche Vorgänge wurden rasche Fortschritte erzielt. Eine neue Disziplin hat sich innerhalb der dynamischen Systemtheorie gebildet und erforscht die Eigenschaften chaotischer Attraktoren und der von ihnen beherrschten Systeme; bekannt wurde diese Disziplin unter dem populären Namen Chaostheorie. Anders als der Name vielleicht vermuten lässt, geht es dieser Wissenschaft weniger um die Entdeckung oder Erzeugung von Chaos als um die Suche nach Wegen aus dem Chaos, sie erforscht Prozesse, die an der Oberfläche chaotisch erscheinen, bei näherer Betrachtung jedoch subtile Einschüsse von Ordnung erkennen lassen. Chaotische Attraktoren sind komplex und subtil geordnete Strukturen, die scheinbar zufälliges und unvorhersehbares Systemverhalten kanalisieren.«
Solche Attraktoren sind mit anderen Worten Beispiele für die Regime oder organisierenden Kräfte sozialer Holons und den in deren Natur liegenden Zug zur Musterbildung (ohne den ein Holon gar nicht erst existieren könnte). Von besonderem Interesse sind Bifurkationen«, das heißt Punkte, an denen Attraktoren eines Typs durch Attraktoren eines anderen Typs abgelöst werden. »Modelle mit chaotischen Bifurkationen (die von turbulenten Zuständen durch Umkonfigurierung der Attraktoren zu neu geordneten Zuständen führen) simulieren evolutionäre Sprünge mit größter Naturtreue. Besonders aufschlussreiche Simulationen ergeben sich, wenn dynamische Systeme destabilisiert werden und in eine chaotische Phase eintreten, bevor sie grundlegend neue und in der Praxis unvorhersehbare stabile Zustände erreichen.«
Daraus ergibt sich für die Chaostheorie, dass »Transformationen dieser Art der Evolution aller im dritten Zustand [fern vom Gleichgewicht] befindlichen real vorkommenden Systemen zugrunde liegen, Atomen ebenso wie menschlichen Gesellschaften«. Solche Transformationen (und nicht bloß Translationen) erzeugen eine statistisch signifikante Tendenz zu größerer Komplexität und höheren Organisationsniveaus. Das System springt auf ein neues Plateau und wird dadurch dynamischer und in seinem Umfeld autonomer.« Alle diese Faktoren zusammen »schieben das bifurkierende System die Leiter der Evolutionären Hierarchie hinauf«. Wenn zunehmende Fluktuationen die dynamische Stabilität eines Systems stören, können seine Punkt-Attraktoren oder periodischen Attraktoren es schließlich nicht länger in seinem derzeitigen Zustand halten. Jetzt treten chaotische Attraktoren auf und führen einen Schwellenzustand herbei, dessen Kennzeichen vorübergehendes Chaos ist. Erreicht das System einen neuen Zustand dynamischer Stabilität, so weichen die chaotischen Attraktoren der Bifurkationsepoche neuen Punkt-Attraktoren oder periodischen Attraktoren. Diese Attraktoren halten das System in einem Zustand fern vom thermodynamischen Gleichgewicht, gekennzeichnet durch effektivere Informationsnutzung, bessere Ausnutzung freier Energien, größere Flexibilität und größere strukturelle Komplexität auf einer höheren Organisationsebene.
Telos – den kleinen Omega-Punkt einer Etappe, den Zug, der vom Endzustand des Regimes eines Holons ausgeht – gibt es natürlich nicht nur in physikalischen Systemen, sondern auch in der Biosphäre und Noosphäre. Die Tiefenstruktur einer Eichel (ihre DNS) liest sich an allen Stellen »Eiche«. Durch Translationen, Transkriptionen und Transformationen entfaltet sich der Same holarchisch zur Eiche. Diese biologischen Vorgänge sind so gut erforscht und den meisten Lesern so gut bekannt, dass ich mich nicht bei ihnen aufhalten möchte (aber wir werden später noch vielen Beispielen begegnen). Halten wir an dieser Stelle nur fest, dass die Biologen »die Existenz eines Zugs in Richtung künftiger Funktionen anerkennen« und »eine Zielorientierung der Organismen nicht zu bestreiten ist«.
In der Noosphäre war das Telos des Geistes nicht mehr zu übersehen, als die Geisteswissenschaften es aufgaben, dem Ideal der Erforschung von Steinen in Bewegung nachzueifern, und sich statt dessen den geistigen Vorgängen zuwandten. Freuds Psychoanalyse beispielsweise ist zutiefst vom Prinzip der Entwicklung geprägt. Entwicklung ist jedoch kein zielloses Herumhüpfen, sondern führt irgendwohin, und eben weil die Psyche irgendwohin unterwegs ist, kann sie auch steckenbleiben – der Weg kann voller Frustrationen Entwicklungshemmungen Fixierungen »Klemmen« und Stockungen sein. Wäre der Geist nicht irgendwohin unterwegs, könnte er auch nicht steckenbleiben und krank werden. Und diese Stellen, wo er in die Klemme gerät, sind nur anhand seines Omega-Punkts zu erklären, anhand des Wohin seines Unterwegsseins. Das finden wir nicht nur bei Freud. »In einer häufig zitierten Formel stellt Piaget fest, dass keine Struktur ohne Entwicklung ist und der Entwicklungsprozess sich nur verstehen lässt, wenn man sowohl die zu Beginn existierende Struktur betrachtet als auch die Strukturen, zu denen sie evolvieren wird.«
Oder Charles Peirce, Amerikas philosophisches Genie: »Das Sein als von einem Zweck oder sonst einer finalen Ursache regiert, das ist das Wesen des psychischen Phänomens.« Und »unhaltbar ist die Lehrmeinung, dass die Zukunft nicht auf die Gegenwart einwirkt«. Oder Roman Jakobson, einer der Wegbereiter der »durchgängigen Anwendung eines Mittel-Ziele-Modells [Telos] auf das Sprachdesign, auf die selbstregulierende Wahrung ihrer Integrität und ihres dynamischen Gleichgewichts ebenso wie auf ihre Mutationen [Transformationen]«, und hierbei war »das teleologische Denken ein zentrales Anliegen«. Und schließlich Habermas nach dessen Auffassung »in den verständigungsorientierten Sprachgebrauch … ein unnachsichtiger Zwang zur Individuierung eingebaut« ist. Sogar Derrida spricht von einer »teleologischen Kraft in uns, die zur Selbstmanifestation führt«.
Wenn ich bisher noch nicht auf die Frage eingegangen bin, worin denn nun der Omega-Punkt, der Grundattraktor, der Endzustand des Geistes besteht, zu dem all die vorläufigen Zustände hinstreben, so liegt das daran, dass die Geschichte hier erst wirklich faszinierend wird. Der Omega-Punkt des Geistes ist für jeden dieser Denker ein Kontext, über den hinaus es keinen weiteren Kontext geben kann und den die Entwicklung oder Expansion folglich nicht überschreitet oder nicht überschreiten kann oder nicht Überschreiten soll.
Für Freud war das die genitale Organisation und das integrierte Ich. Für Piaget war es das formal operationale Denken denn nur dieses Denken kann das »Gleichgewicht« herstellen und bildet demnach den Abschluss der Entwicklung. Und bei Habermas finden wir als Endpunkt der Entwicklung den rational-intersubjektiven Austausch eines zwangfreien gegenseitigen Verstehens; sobald das erreicht ist, kommt der »unnachsichtige Zwang« zur Ruhe.
So postuliert jeder seinen eigenen Omega-Punkt, der in gewisser Weise »das Ende der Geschichte« darstellt, denn wenn er erreicht ist, sind alle wirklich schwierigen Fragen beantwortet, und es stellt sich eine Art paradiesischer Zustand ein. Für Hegel ein rationaler Staat in dem die einzelnen den in ihnen und durch sie wirkenden GEIST zu ihrer Wirklichkeit machen können. Für Marx eine klassenlose Gesellschaft in der alle Entfremdung durch Fürsorglichkeit der Menschen untereinander geheilt werden kann. Und vielen dürfte Teilhard de Chardins »Punkt Omega« bekannt sein, die Auferstehung des Christus-Bewußtseins in jedem Menschen – Ziel und Zweck der Geschichte und der Evolution überhaupt.
In allen diesen Omega-Punkten sind wichtige Wahrheitsmomente zu finden. Jede Entwicklungsstufe ist – als Holon – einer Spannung ausgesetzt: Als Ganzes ist sie relativ autonom und in sich geschlossen; als Teil jedoch ist sie in gewissem Sinne entfremdet, separiert, von den Kontexten abgeschnitten, die außerhalb ihrer Wahrnehmung liegen. Solange sie den größeren oder tieferen Kontext nicht einbeziehen kann, wird ihre eigene relative Seichtheit sie mit dem Bewusstsein ihrer Beschränktheit plagen, wird mit Ahnungen eines Tieferen, Höheren, Bedeutungsvolleren an ihren Grenzen zerren.
Und das ist nicht poetisch gemeint. Piaget zum Beispiel stellte fest, dass die früheren und niedrigeren Stadien der kognitiven Entwicklung mit eingebauten Beschränkungen und Konflikten behaftet sind und ein in diesen Stadien steckenbleibendes Denken sich endlos an bestimmten sehr wichtigen Aufgaben abmüht und immer wieder scheitert. Erst mit dem Einsetzen des formal operationalen Denkens können solche Konflikte gelöst werden, so dass ein gewisser, von Piaget Gleichgewicht genannter Frieden sich einstellt, ein harmonischer Zustand dynamischer Ausgewogenheit. Außerdem zeigte sich, dass diese früheren Konflikte nur aus der Perspektive des formal operationalen Denkens zu durchschauen sind – als verzweifeltes Bemühen, sich zu einer Lösung, zum Omega-Punkt dieser Entwicklungsstufe, zum Gleichgewicht im größeren Kontext formal operationaler Kognition durchzuschlagen; und Frieden kann erst einkehren, wenn dieser weitere Horizont gefunden ist.
Beschränkte Kontexte sind durch nichts aufzulösen, was auf derselben Ebene unternommen werden kann; vielmehr muss diese Ebene transzendiert werden, damit ihr tieferer und weiterer Kontext sich zeigen kann. Tiefere und weitere Kontexte üben einen Zug aus, sie sind das Telos des gegenwärtigen beschränkten Kontexts.
Das ist die Wahrheit, die wir bei allen Omega-Punkt-Denkern finden (und jeder »Denker«, der diesen Namen verdient, ist ein Omega-Punkt-Denker). Wo ihre Kontexte wohlbegründet sind und sie nicht der Versuchung des Reduktionismus erliegen, können wir viel von ihnen lernen. Sie haben stets den Weg im Sinn, der über unsere gegenwärtig beschränkte Wahrnehmung hinausführt, und solange ihre Kontexte stimmig sind, haben sie recht: Es wird keinen Frieden geben, solange wir keinen weiteren Horizont haben, solange wir uns nicht für größere Tiefe bereit machen.
Und ein äußerster Omega-Punkt? Der würde ein endgültiges Ganzes voraussetzen, und solch ein Holon gibt es nirgendwo im Reich des manifestierten Seins. Aber vielleicht lässt sich das auch anders betrachten. Vielleicht bewegt Telos, vielleicht Eros den gesamten Kosmos, und wer weiß, vielleicht ist Gott sogar ein alles umfangender chaotischer Attraktor, der, wie Whitehead sagte, als sanfte Überredung zur Liebe in allem wirkt.