Rot
Das verblassende Purpur verhilft dem egomanischen Rot zum Durchbruch. Die Welt hat hier dem persönlichen Willen zu gehorchen. Dem Leben selbst wird kein eigenständiger Wert beigemessen. Das Leben wird stattdessen dem Auskosten des Augenblicks unterworfen. Beziehungen zu anderen Menschen dienen ebenfalls dem eigenen Zweck und sind nur oberflächlich und von unbestimmter Dauer. Schuldgefühle über das eigene Verhalten werden gar nicht erst bewusst. Doch hat Rot auch seine fördernde Funktion innerhalb der Entwicklungsspirale, indem es befreiend und kreativ zur Überwindung aufgekommener Probleme in anderen Wertememen beiträgt.
Innerhalb der Entwicklung des Kindes beginnt das Denken in Rot etwa ab dem Ende des ersten Lebensjahrs. Ausgeprägte Verhaltensmerkmale zeigt es in der
Trotzphase, die etwa bis zum vierten Lebensjahr anhält und mit der Pubertät erneut erscheint. Wenn diese ersten Äußerungen von Auflehnung und Unabhängigkeit des Kindes von den Eltern nicht erkannt werden oder unterdrückt werden, können die Kinder ihre Wut für ihr ganzes Leben erstarren lassen.
Ziel des roten Wertemems ist die Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen. Dementsprechend kommt es in Gestalt von Warlords in Ländern wie Somalia, Afghanistan oder Jemen, Imperien wie dem englischen Kolonialreich oder dem Osmanischen Reich vor. Entdeckungsfahrten der großen Seefahrer wie James Cook, Ferdinand Magellan oder William Bligh waren auch gleichzeitig Eroberungsfahrten für die herrschenden Auftraggeber. Der Führungsstil auf ihren Schiffen entsprach dem roten Wertemem, in dessen Bann sie standen. Die Durchführung weniger dramatischer Eroberungs- und Entdeckungsreisen als die der Bounty zeigt, dass eine
angemessene Handlungsweise in Rot auch dazu fähig ist dem Einsatz von Macht einen positiven Sinn zu geben.
Die aus Purpur stammenden Götter werden in Rot schließlich sehr menschlich und auf wundersame Weise wohltätig. So konnten sie sich bis in die Kinderzimmer der Gegenwart als Monster und Gnome erhalten.
In Rot gebildete Gesellschaftssysteme basieren auf körperlicher Gewalt, Einschüchterungen und dem Charisma ihrer Führer. Sie umfassen sowohl Mächtige und Wohlhabende wie auch machtlose Habenichtse. Die Wünsche der Mächtigen werden von den Machtlosen erfüllt. Es scheint so, als sei der Sozialdarwinismus in Rot verwirklicht. Doch das trifft nicht zu; Rot hat kein rassistisches oder patriarchales Gesicht, wie es die Theorie des Sozialdarwinismus voraussetzt. Die tief liegenden destruktiven Tendenzen von Rot haben weit mehr mit den Lebensbedingungen und den Wertememen zu tun, die diese erwecken. Eine wichtige Quelle von Rot sind die Ungleichheiten zwischen den Generationen. Die gegenwärtig in das Berufsleben eintretende Generation sieht sich vor die enormen Herausforderungen des demographischen Wandels gestellt. Auf der einen Seite werden die Chancen der Teilhabe am Wirtschaftsleben und der Teilhabe am öffentlichen Leben immer schlechter, auf der anderen Seite wächst die Zahl der Rentenempfänger, die aus den Arbeitseinkommen finanziert werden müssen. Wut und egozentrisches rotes Denken sind die Folgen. Rot hat in solchen Situationen die Funktion einer Alarmanlage die auch falsche Versprechungen durchschaut und Betrug nicht toleriert.
Anzeichen eines verstärkten roten Einflusses sind die Einfärbungen der Alltagssprache mit Wörtern für Körperteile und Sex sowie Flüche. Es handelt sich um eine Verrohung der Sprache durch Ausdrücke der Herrschaft und Macht. Der feine Witz geistvoller Schlagfertigkeit hat hier keine Chance mehr; die Comedy hat das Kabarett weitgehend aus den Unterhaltungsprogrammen des Fernsehens verdrängt. Im Krieg kommt es zu Massakern, Vergewaltigungen und Plünderungen sowie zur Präsentation von Kriegstrophäen. Kinder stehlen Autos oder werfen Steine von Autobahnbrücken oder schießen auf willkürlich ausgesuchte Opfer. Die in Rot geballte Energie kann sich innerhalb der heutigen dominierenden städtischen Lebensbedingungen nicht mehr positiv entfalten. Eine immer drängendere Frage in den entwickelten Zivilisationen ist daher, wohin kann sich Rot richten, um Spaß zu haben und Abenteuer zu erleben? Ein Blick auf die Freizeitaktivitäten der heranwachsenden Generation lässt erkennen, dass die virtuellen Welten der Video- und Computerspiele sowie die Straße die neuen Schauplätze der jugendlichen Helden sind. Aber was ist das Thema, der dort ausgetragenen Konflikte, in die sich die Spieler hineinversetzen? Das Leitthema wurde von Clare Graves so benannt: “Statt unerträgliche Schande zu leiden, weil du dein Gesicht verloren hast, sollst du unter allen Umständen dein Selbst zum Ausdruck bringen, um gepriesen zu werden – einer, der ewig im Gedächtnis der Menschen weiterleben wird.“ Menschen, die so denken, neigen dazu, den Grund für ihre Schwierigkeiten und Fehlschläge außerhalb von sich zu sehen.
Menschen in Rot sind unfähig, sich Beschränkungen aufzuerlegen oder gut zu planen. Sie gleichen wohlhabenden Wüstenbewohnern, die den Tank ihres Straßenkreuzers leer fahren und an der nächsten Ecke ein neues Auto kaufen. In Rot denkende Menschen wollen größer sein, als sie wirklich sind und das letzte Ziel ist, den Tod herauszufordern und zu gewinnen. Dem entsprechend sind sie egozentrisch und unverfroren, sie haben große Sebstsicherheit, Machtansprüche und vermeintliche Vorrechte, Schuldgefühle und Rücksicht auf andere fehlen. Beispiele sind die Paten der Mafiawelt, die Wikinger, Dschingis Khan und Caligula.
Das leichte Leben in Rot spielt sich auf der griechischen Insel Ios, in Teilen von Bangkok, im Karneval von Rio de Janeiro, in Tijuana oder in Amsterdam statt. Diese Orte der Lust und Spontaneität kommen dem inkonsequenten Denken von Rot entgegen. Besonders Teenager mit einer guten Hormonausstattung und Drogenabhängige, für die „high“ zu sein das Zentrum des Lebens bildet, fühlen sich dort hingezogen.
Rot ist häufig im Lebensumfeld armer Stadtbewohner zu hause. Eine kurze Lebenserwartung und ständige Gefahren sind wesentliche Bestandteile des täglichen Lebens. Wer hier heran wächst, zählt in seiner Vita meistens eine lange Liste krimineller Vergehen auf. Es ist gut, „böse“ und gefürchtet zu sein. In den Schulen tauchen Waffen auf. Die einzige Lehre für Rot ist hier: „Das Leben ist nicht viel wert“, und „Das Leben ist ein Dschungel“; „die Welt ist voll von Räubern und Opfern von Fressern und Gefressenen“.Menschen, die auf dem Höhepunkt von Rot angekommen sind, lernen nicht durch Bestrafung, da Tat und Bestrafung nicht in zeitlichem Zusammenhang stattfinden, Schuldgefühle nicht vorhanden sind und Ursachen immer an jemandem anderes liegen. Die begangenen Straftaten werden in Rot impulsiv, d. h. nicht vorsätzlich ausgeführt so dass durch die Täter keine entfernteren Konsequenzen bedacht werden. Die in den USA durchgeführten Hinrichtungen solcher Täter haben lediglich den Effekt, dass sie Gefängniszellen sparen, blau geprägten Menschen ein Gefühl der Genugtuung geben und grün geprägten Menschen einen Grund zum Protestieren liefern. Letztendlich formen sie jedoch die Brutalität, für die Rot verurteilt wird und sie bestätigen gerade die in Rot herrschende Weltsicht.
Es kommt vor, dass Menschen lediglich in Rot posieren aus lauter Angeberei oder zum Zweck der Selbstverteidigung. Bei genauerer Prüfung stellt sich dann heraus, dass eine Regression auf Purpur oder sogar vergangenes Beige erfolgt.
Rote Gesellschaften bestehen aus wenigen Reichen, die herrschen und vielen Armen, die nichts zu sagen haben. Reichtum wird ungeniert zur Schau gestellt, weil die Armen durch die wenigen Krumen, die vom Tisch abfallen ruhig gestellt sind. Sollte es dann doch zur Auflehnung gegen die Verhältnisse kommen, werden Exempel an den „schlechten“ Dienern des Regimes statuiert, die gleichzeitig jene motivieren, die danach streben, eine Stufe der Armutsleiter heraufzurücken. Niemand traut sich, „Des Kaisers neue Kleider„ zu kritisieren oder den Zauberer von Oz zu sehen. Die verschiedenen Stufen der Armut führen sogar dazu, dass es unter den Armen Klassenunterschiede gibt, die das Verhalten der Reichen nachahmen. Dieses Verhalten bringt Kinder und Jugendliche hervor, die eine ganze Schule tyrannisieren, den Vorarbeiter der seine Kollegen gnadenlos ausbeutet und den Häuslebauer der sich selbst in blinder Nachahmung der Besitzenden sein „Schlösschen“ baut und so zum Gefangenen seiner Sehnsucht wird. Bestechungen und Schmiergelder sind zu weit verbreiteten Geschäftspraktiken von Unternehmen geworden (die spanische Mordida; das orientalische Bakschisch). Eine verbreitete Redensart sagt: „Eine Hand wäscht die andere“, ohne dass sich bei der Aussprache dieses Satzes eine Gefühlsregung zeigen würde.
Die Welt in Rot ist handfest, konkret und bestimmt. Man hat lieber Bares in der Tasche als einen Fetzen Papier in der Hand. Blutige Sportarten wie Bärenhatz, Hundekämpfe oder ritualisierte Stierkämpfe leiten hin zum Gedanken an einen „edlen“ Tod, den man sich in Rot wünscht.
Trotz seiner vielen Erscheinungsformen in menschlichem Elend ist Rot doch ein wichtiger Bestandteil der Entwicklungsspirale. Es ist für sich gesehen weder gut noch schlecht. „Die stolze, kernige und selbstsichere Lebensweise kann viel Kraft und Fantasie geben. Gesundes Rot liebt Spaß, ist kreativ und frei genug, das Leben bis auf den Grund auszuschöpfen und zu genießen. Indem es mit „dem ‚System‘ bricht, schafft es Innovationen…. Wie ein Katalysator, dessen Vorhandensein Aktionen und Reaktionen auslöst, führt es der Spirale Kraft zu“ (Zitat aus dem Buch „Spiral Dynamics“ von Beck / Cowan).
Rot geprägte Menschen können sich jedoch selbst nicht objektiv sehen, da das Ego sehr stark ausgeprägt ist. Sobald ihre Ideen in Frage gestellt werden, sehen sie hierin eine persönliche Kritik und gehen in eine Verteidigungsstellung. Hierdurch wird ein ruhiges sachliches Gespräch eher unwahrscheinlich.
Jeder Mensch – und sei er auch mit der Kraft des roten Wertemems ausgestattet – stößt einmal an seine Grenzen. Hierzu sei nur auf das Peter-Prinzip hingewiesen: „In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen.“ Es schleichen sich am Ende doch Schuldgefühle ein und das beherrschende Wertemem klammert sich verzweifelt an seine Macht. Die neu aufgetauchten Probleme können nur noch erahnt werden und es kommt zu der Erkenntnis, dass sie nicht mehr von einem Einzelnen gelöst werden können. Doch bis die notwendigen Konsequenzen gezogen werden versucht die rote Führungsschicht, Moral und Ordnung zwangsweise einzuführen und den auftauchenden blauen Problemen mit Neusprech den Geist zu vernebeln. Es entstehen formale Regeln und Vorschriften für ein rechtschaffenes Leben, die Grenzen der sozialen Klassen werden überschritten. Die Vorgehensweise ist militant, da nichts weniger verlangt wird, als das Selbst zu leugnen. Nun gibt es als gerecht empfundene Peinigungen für Ungläubige und viel göttliches Befehlebrüllen. Bestrafungen erfolgen prompt, aber nach dem Gesetz statt durch den Lehnsherrn. Wir können König Artus bei seinem Versuch zusehen, ein blaues Wertesystem zu schaffen, oder die Magna Charta als einem der ersten weltlichen Zeugnisse von blauer Ordnung studieren. Ein neuer Gemeinschaftssinn kommt auf und hinterlässt ein Gefühl der Schuld, wenn eigennützige Impulse das Handeln bestimmen.
In der Praxis wirtschaftlicher Unternehmungen kommt es unter der Herrschaft des roten Wertemems zu euphorischen Anfangsphasen neuer Projekte, die jedoch bald scheitern, weil sie nicht wirklich weiterverfolgt werden. Zum Erfolg wäre ein abgestimmtes Zusammenarbeiten in vertrauensvollen Beziehungen und ein langfristiges Planen Voraussetzung. Diese Voraussetzungen sind aber nicht in Rot gegeben. Statt dessen gibt es hier zu viele Häuptlinge und zu wenige Indianer und es entsteht eine unproduktive Kopflastigkeit..
Das einsickernde Blau schafft ein unbeständiges Kraftfeld. Blau legitimiert rote Handlungen und Rot verstärkt die blauen Standards. Diese Verbindung hat in der Geschichte zu großartigen wie auch grausamen Ereignissen geführt. Dazu zählen blutige Revolutionen und Aufstände, ethnische Säuberungen und schurkische Polizisten, aber auch die mathematischen und astronomischen Einsichten der Mayas, die Baukünste des alten Ägypten, der innere Antrieb der religiösen Traditionen und jede Menge militärischer und sportlicher Helden aller Nationen.
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