Die Beobachtung des Gefühlslebens in Deutschland via Internetrecherche zeigt neben mittel- und langfristigen Trends auch Reaktionen auf herausragende Tagesereignisse auf. Am Abend des Montags vor Weihnachten ereignete sich ein Anschlag auf den im Herzen Westberlins unmittelbar an der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche abgehaltenen Weihnachtsmarkt mit bisher 12 Toten und zahlreichen – zum Teil schwer – Verletzten. Ein Sattelschlepper war ungebremst durch die Menge der Marktbesucher gefahren und hatte eine Spur des Grauens gelegt. Der Fahrer des LKW konnte fliehen, auf dem Beifahrersitz fand man einen durch Messerstiche und Pistolenschüsse getöten Mann, der den LKW für eine polnische Spedition gefahren hatte und seine Fracht bei einer Firma in Berlin abliefern wollte. Soweit der Sachverhalt.
Wer die Berichterstattung über dieses Ereignis in der Fernsehberichterstattung verfolgt hat wird ein Muster erkannt haben, das sich bereits aus den Terrorereignissen in Paris und Brüssel bzw. dem Amoklauf in München herauskristallisiert hat: Abbruch des planmäßigen Programms und Übergang in eine Dauernachrichtensendung mit Lageberichten vom Geschehen vor Ort, Einschätzungen der Situation von „Terrorismusexperten“ – offensichtlich ein neuer Beruf, der noch keiner Áusbildungsordnung unterliegt – der Fernsehanstalten oder des Wissenschaftsbetriebes. Daneben wird schon der mittlerweile gut eingespielte Ablauf der politischen Reaktionen angefahren mit ersten Betroffenheitsadressen der Parteien und Regierungen, dann kommen die politischen Talkrunden zum Zuge mit den immer wiederkehrenden Forderungen nach mehr Geld und Personal für Terrorprävention der Gewerkschaft der Polizei, Ausweisung und „Rückführung“ der üblichen Verdächtigen und Schuldzuweisungen je nach formaler Verantwortungslage. Gekrönt wird das Ganze durch die Betonung der Zuständigen, es bestehe bei allem was gesagt und getan werde, die Ungewissheit, wer genau was getan habe. Für mein Empfinden kann postfaktisches Agieren nicht besser illustriert werden.
Wie reagiert nun die Öffentlichkeit auf diesen postfaktischen Zustand? Erstaunlich gelassen! Im Verlauf der Gefühlskurven der vergangenen Woche ist ein deutlicher Einbruch im Empfinden von Freude – oder anderherum ein starker Ausdruck von Trauer – zu sehen. Diesem Effekt geht eine Art Aufweckerlebnis voraus, wie es in dem Verlauf der Aktivitätskurve zu sehen ist. Während die Trauer noch anhält, geht die Aktivität schon wieder auf das alte Niveau zurück. Gleiches gilt für die Veränderungsbereitschaft, die in der Kurve der Offenheit zum Ausdruck kommt.
Die in den übrigen Kurven auftretenden Ausschläge können nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Terrorereignis zurückgeführt werden. An dem aus der Grafik ablesbaren Gesamtergebnis ist abzulesen, dass die Strategie des „Postfaktischen“ in der Lage ist, einen Wahrnehmungsraum zu schaffen, der es ermöglicht, unverändert in den gegeben Strukturen fortzufahren. Es wird damit eine vergleichbare Wirkung erzielt, wie sie nach dem 11. September 2001 in den USA mit dem Alarmsystem der „5 Codes“ geschaffen wurde. In diesem Warnsystem wurden fünf Warnstufen verwendet, die lediglich unspezifische Wahrscheinlichkeiten für einen Terroranschlag angaben, etwa wie im Wetterbericht die Regenwahrscheinlichkeit angegeben wird. Es fehlte an objektiven Kriterien für den Einsatz der entsprechend den Warnstufen aufgestockten Polizeikräfte. Diese erhielten nur vage Hinweise wie „möglich sind Anschläge auf das Eisenbahnnetz“. Vom logischen Standpunkt her ist es aber jederzeit möglich, dass auf Eisenbahnen wie Weihnachtsmärkte und große Menschenansammlungen allgemein Anschläge verübt werden können. Insoweit ist den abwehrenden Hinweisen der Innenminister in Deutschland ein realistischer Blick auf die Möglichkeiten zu bescheinigen.
Insgesamt ist die Gesamtproblematik des Terrorismus mit den eher hilflos wirkenden Reaktionen der politisch Verantwortlichen und der Medien eher dazu geeignet, die Gefahr in den Kanon der allgemeinen Lebensrisiken einzufügen, statt eine Diskussion über die tieferen Ursachen über die Reaktion fundamentalistischer religiöser oder vermeintlich religiöser Kreise – zu denen nicht nur gewaltbereite Islaministen, sondern auch z. B. Hindus, Evangelikale und sektiererische Buddhisten gehören – auf den in westlichen Gesellschaften grassierenden Materialismus zu führen. Von einer christlichen Restgemeinde wird zwar immer wieder mal der gemeinsame Ursprung und der gleiche Gott beschworen, auf den sich Christen, Juden und Moslems berufen, doch wird dem vor allem seitens gläubiger Moslems nur wenig Gewicht beigemessen, da nach ihrem Eindruck, den sie in der ach so christlichen Kultur gewinnen, der christliche Glaube nicht gelebt wird. So wird schließlich aus der Ausbeutung der mittelalterlich anmutenden Scheichs an Energiereserven und Arbeitssklaven ein Kampf gegen Ungläubige. Wiederholt sich hier vielleicht die Geschichte vom Beginn der Neuzeit, als Europas Könige ihre Schiffe über die Meere schickten, um die Reichtümer Asiens und des wiederentdeckten Amerika in ihre Gewalt zu bringen? Ist es nicht so, dass in den westlichen Szenarien einer postfossilen Zeit die Erdölstaaten als Machtfaktoren gar nicht mehr vorkamen? Auf solche Fragen Antworten zu erhalten wäre das Programm für den Einstieg in eine neue Weltfriedensordnung.