Bemerkungen zur Entwicklung in den Großstädten der Ukraine
In Abbildung 6 ist für die Großstädte der Ukraine ein Überblick über die Wertewelten gegeben, der die Unterschiede zwischen den Städten ablesbar macht. Für eine detaillierte Ansicht ist die Vergrößerung durch anklicken möglich.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass 10 der untersuchten Städte gleichzeitig Namensgeberinnen für die Oblaste (Bezirke) der Ukraine sind. Eine Trennung zwischen den räumlichen Einheiten der Städte und der Oblaste ist methodisch kaum möglich. Aufgrund der räumlichen Wirkungszusammenhänge zentraler Orte kann davon ausgegangen werden, dass keine krassen Gegensätze zwischen Hauptstädten und Umland bestehen. In militärischer Hinsicht sind dagegen solche Unterschiede eher als obligatorisch anzunehmen.
In der Gesamtschau der Abbildung 6 ist die Dominanz des WMems Blau erkennbar, die für 12 der 14 Städte gilt. Einschränkungen sind hierbei für die Städte Dnipro und Odessa zu machen. In Dnipro wird Blau von sehr starkem Purpur und Rot sowie von Gelb und Türkis begleitet, in Odessa sind es Gelb und in etwas geringerem Maße Purpur.
Extrem schwache Anteile von Blau sind in Donezk und Krywyj Rih zu sehen. Starke Dominanz von Blau ist dagegen für die Städte Luhansk und Simferopol kennzeichnend.
Allgemein kann festgestellt werden, dass der Krieg und seine Folgen nach einem Jahr der Zerstörung nun in der gesamten Ukraine Spuren hinterlässt, die auch in den hier untersuchten Merkmalen Veränderungen bewirken. Diese Veränderungen haben vielfältige Ursachen, auf die bereits eingangs teilweise eingegangen wurde. Städte sind jedoch aufgrund ihrer baulichen, demografischen und wirtschaftlichen Dichte in erhöhtem Maße von Kriegen betroffen. Das ist in besonderer Weise bereits spätestens seit dem Umbau von Paris durch den Baron Haussmann dem Militär bewusst.
Extreme Situationen deuten sich in Donezk mit einem überragenden Gelb und minimierten Blau in ansonsten großer Schwäche sowie in Luhansk mit überragendem Blau in einer Einöde der Wertewelten an. Es handelt sich um zwei Städte, die in einer Zone liegen, in der ein Kampf um alles oder nichts stattfindet und der alle anderen Denkstrukturen ausschließt. Dabei ist die Dysfunktionalität im Bezug auf Donezk, in dessen Oblast auch die umkämpfte Stadt Bachmut liegt, durch den allein wirksamen Einfluss von Blau erkennbar. In noch größerer Ausweglosigkeit erscheint die Situation in Luhansk, das auch für den gleichnamigen Oblast steht. Hier ist es das zu den WMemen der zweiten Ordnung gehörende WMem Gelb, das keine Wirkung auf die reale Wirklichkeit der Wertesysteme der ersten Ordnung entfalten kann. Hierin spiegelt sich die seit dem Jahr 2014 bestehende Situation einer in Teilen des Oblast bestehenden und seit dieser Zeit von russischen Militärs kontrollierten „Volksrepublik Lugansk“ wider. Diese Situation kann als surreal bezeichnet werden, als ein Zustand, der von einem Ideensystem beherrscht wird, das keine Entsprechung in der Realität findet – weder auf russischer Seite, noch in der Ukraine.
Besonders einzugehen ist auch auf die Rolle, die das in den meisten Städten hervortretende Purpur spielt. Wie ich bereits in früheren Beiträgen erläutert habe, steht dieses WMem für die Reaktivierung des in der Kindheit verblassten Wünschens und Beschwörens. Es deutet damit auf die als ausweglos erscheinende Situation des Krieges hin, die eine psychische Belastung des einzelnen Individuums wie auch eine Einschränkung des Urteilsvermögens bedeutet. Entsprechende Reaktionen sind deshalb auch in den Quadranten zu erwarten.
Von besonderem Interesse muss den drei Wertesystemen Rot, Blau und Orange gelten, die in der Gesamtentwicklung der Ukraine eine hervorgehobene Rolle spielen, darüber hinaus auch den beiden Wertesystemen der 2. Ordnung (Gelb und Türkis), die als Impulsgeber für die Entwicklung der Wirklichkeit des Landes entscheidend sind. Grundsätzlich ist bezüglich letztgenannter darauf hinzuweisen, dass die relativ starke Ausprägung von Gelb und Türkis in erster Linie für das Bewusstsein der politischen und kulturellen Eliten der Ukraine stehen, die den Krieg zwischen ihrem Land und Russland zu einem Kampf weltanschaulicher Systeme gemacht haben. Sie wähnen sich Teil westlicher Demokratien zu sein, die einem autokratisch regierten Russland gegenüber stehen, das seinerseits einen Kampf gegen das westliche System führt. Daraus leitet die Ukraine den Anspruch ab, Unterstützung in diesem Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ zu erhalten. Dieser Auffassung ist seitens der USA und seiner europäischen Verbündeten durch technische und wirtschaftliche Unterstützung gefolgt worden, ohne jedoch ihre geopolitische Position gegenüber der Ukraine deutlich zu machen und somit eine Relativierung des Kriegsgrundes zu bewirken. Im Gegenteil, die immer wieder zögerlich befolgten Anforderungen von Waffen durch die Ukraine haben diese zunehmend in der Rolle des Verteidigers westlicher Werte gegen Russland bestärkt und damit eine weitere Eskalation des Krieges heraufbeschworen.
Vor diesem Hintergrund muss die Bedeutung der Wertesysteme der 2. Ordnung für die Ukraine ebenfalls relativiert werden, da ihre Wirksamkeit auf die WMeme der 1. Ordnung von der Bereitschaft der Unterstützerstaaten abhängt, weiter in das Kriegsgeschehen hineingezogen zu werden. Das schmälert jedoch nicht die Aussagekraft der WMeme der 1. Ordnung, da diese die reale Wirklichkeit widerspiegeln.
In Abbildung 7 wird eine tabellarische Übersicht über den Stand der Wertesysteme in den Großstädten gegeben. Bezugsgrößen sind die arithmetischen Mittel aller aufgeführten Städte. Es sind jedoch auch hier die besonderen Bedingungen des Krieges zu beachten, die insbesondere das WMem Orange betreffen. Der diesbezüglich für die Abfrage benutzte Begriff ist „Erfolg„. Dieser Begriff ist ein Schlüsselbegriff der Kriegsberichterstattung und hat in diesem Zusammenhang eine gegenteilige Bedeutung zu seiner Verwendung als Synonym für das Wertesystem Orange. Letzteres steht für Individualismus, Wissenschaft, Pragmatismus und Demokratie. Im Krieg zählt tendenziell blinder Gehorsam, Gemeinschaftszwang, Zerstörungskraft und in höchstem Grad selektive Wissenschaft. Der Aussagewert des Begriffs muss daher jeweils aufgrund der militärischen Situation vor Ort abgeschätzt werden und kann aus meiner Position nicht beurteilt werden. Von Ausnahmen abgesehen, kommen dem WMem Orange jedoch aufgrund der militärischen Pattsituation weder in dem einen noch in dem anderen Sinn entscheidende Bedeutung zu.
In besonderer Bedrängnis erscheinen aufgrund ihrer besonderen psychischen Bedeutung Städte, in denen eine überdurchschnittlich hohe Beteiligung von Purpur und Rot in Kombination zu sehen ist. Solche Städte sind Kiew, Charkiw, Dnipro, Saporischschja, Lwiw und Krywyj Rhi. In den nachfolgend aufgezählten Städten sind daneben die genannten weiteren WMeme aktiv:
- Kiew (Orange, Grün, Türkis)
- Charkiw (Grün, Türkis)
- Dnipro (Orange, Türkis)
- Saporischschja (Orange)
- Lwiw (Orange)
- Krywyj Rih (Beige, Orange, Türkis)
Besonders zu erwähnen ist Krywyj Rih mit seinem starken Beige neben Mariupol, Luhansk und Simferopol, die ebenfalls starke Anteile von Beige aufweisen. Auch Beige kommt eine Doppelbedeutung im Krieg zu, die jedoch anders als „Erfolg“ weniger problematisch ist. Der Krieg selbst ist ja Ursache für die erste Bedeutung – nämlich die existenzbedrohende Gefährdung des menschlichen Lebens.
In Abbildung 8 sind die Zunahmen und Abnahmen in Prozentpunkten im Vergleich zum Vormonat Januar 2023 für die WMeme und die Quadranten dargestellt. Die Quadranten sind in Grautönen im unteren Bereich der Grafik als Prozentpunkte ablesbar, am unteren Rand der obere linke Quadrant gefolgt vom unteren linken Quadranten und am Übergang zu den farbkodierten WMemen die zusammengefassten rechten Quadranten.
Die Gesamtsituation ist von breit gestreuten Veränderungen geprägt, die keinem einheitlichen Muster folgen. Es wird hier deutlich, wie der Krieg die Ukraine erschüttert und Chaos erzeugt. An den Verlagerungen der Wertesysteme ist das Ordnung schaffende Blau lediglich in Kiew, Luhansk, Lwiw, Odessa, Saporischschja, Sewastopol und Winnyzja in höherem Maße gegenüber anderen WMemen mit positiven Zugewinnen beteiligt. Dem stehen in Mariupol und Mykolajiw bedeutendere Verluste gegenüber. Dabei ist zu beachten, dass auch vom Militär Ordnung geschaffen wird, die mit den politisch legitimierten staatlichen Ordnungskräften konkurrieren. An den sprunghaften Veränderungen sind – bis auf die Ausnahmen Donezk, Krywyj Rih, Mariupol und Mykolajiw – einzelne WMeme als Auslöser beteiligt. Sie weisen vermutlich auf den Einfluss von Militäraktivitäten – feindlichen oder ukrainischen – hin. Hinweise auf positive oder negative Entwicklungen der Ordnung können auch begleitende Veränderungen in den Wertesystemen Rot und Purpur liefern. Ohne die Kenntnis der örtlichen Geschehnisse lässt sich jedoch aus den Grafiken keine auch nur annähernd logische und detaillierte Ursache–Wirkungsbeziehung entwickeln.
Weniger schwierig stellt sich dagegen die Auswertung der Quadrantenverschiebungen dar. Auch hier gibt es sprunghafte Veränderungen und einige Ausnahmen (Charkiw, Dnipro, Donezk und Saporischschja), die eine gewisse Stabilität signalisieren. Die Städte Kiew, Krywyj Rih, Luhansk, Mykolajiw, Sewastopol und Simferopol zeigen – wie die Ukraine insgesamt (siehe eingangs) starke Abnahmen der rechten Quadranten. Dem stehen lediglich die Städte Lwiw, Odessa und Winnyzja mit Verstärkungen der rechten Quadranten gegenüber. In fünf Städten kommt es zu einer relativ starken Zunahme des unteren linken Quadranten (Wir= Kultur).
Abschließend stellt sich der Quadrantenstatus der Großstädte wie in Abbildung 9 gezeigt dar. Die Situation ist – wie in der Ukraine als Ganzem – durch sehr schwache rechte Quadranten bestimmt (schwache rationale Sichtweisen). Eine Ausnahme stellt die Stadt Krywyj Rih dar. Hier ergibt sich ein Bild, wie man es in vielen mittel- und westeuropäischen Städten findet. Der stabilste Quadrant ist der unten links verortete Wir-Quadrant, der auf den Stellenwert der Kultur hinweist. Er ist – wie in der Ukraine allgemein – stärker ausgeprägt als der Ich-Quadrant. Ausnahmen stellen Luhansk, Simferopol und Donezk mit extrem starker Ausprägung des WIR und Sewastopol mit einem defizitären WIR-Quadranten dar. Es ist denkbar, dass dieses Ergebnis durch russische Einflüsse zustande kommt und nicht als Hinweis auf die ukrainische Kultur zu verstehen ist, sondern auf die russische Kultur, die zwangsweise eingeführt wurde. Das in Sewastopol festzustellende Defizit kann in diesem Sinn auf Widerstände gegen solche Zwangsmaßnahmen gedeutet werden. In jedem Fall kann in diesen drei Städten nur die Ortskenntnis Klarheit bringen.
Aus dem beschriebenen Überblick ergibt sich tendentiell eine Schwächung der oberen linken Quadranten, die in den Städten Donezk, Luhansk und Simferopol zu Defiziten führt und in Sewastopol zu einem Überschuss führt. Daneben ist auch in Odessa ein besonders starker oberer linker Quadrant zu sehen.
Abschließend muss ich darauf hinweisen, dass durch die Kriegsverhältnisse die Verursacher für die Veränderungen bei allen untersuchten Indikatoren aus der Ferne nicht eindeutig identifiziert werden können. Die hier gegebenen Interpretationen sind daher lediglich als Interpretationsvorschläge zu betrachten.