„Jede weitere Stufe der Evolution erzeugt größere Tiefe und geringere Spanne.
Je größer die Tiefe eines Holons, desto unsicherer wird seine Existenz, da sie von einer wachsenden Zahl interner Holons abhängig ist. Und da die niederen Holons Komponenten der höheren sind, kann es niemals mehr höhere Holons als Komponentenholons geben.
So wird beispielsweise die Zahl der Wassermoleküle im Universum immer kleiner sein als die der Wasserstoff- und Sauerstoffatome. Die Anzahl der Zellen im Universum wird immer kleiner sein als die der Moleküle und so weiter. Das heißt, die Anzahl der Ganzen wird immer kleiner sein als die der Teile.
Deshalb bedeutet größere Tiefe eines Holons immer geringere Spanne im Vergleich mit seinen Vorläufern. So kommt man zur sogenannten Entwicklungspyramide: Die Spanne mentaler Holons ist viel kleiner als die Spanne materieller Holons.“
In Wilbers Sicht bedeutet jedoch die größere Tiefe eines Holons auch einen höheren Grad seines Bewußtseins und so erhält die Evolution auch eine spirituelle Dimension. „…überall, wo sich Entwicklung vollzieht, müssen wir zuallermindest zwischen Tiefe und Spanne unterscheiden, und nicht nur weil dieser Unterscheidung objektive (reale) Gegebenheiten entsprechen, sondern weil wir andernfalls (und das womöglich mit »holistischem« Anspruch«) doch wieder einen subtilen Reduktionismus einführen, der automatisch alles unter dem Gesichtspunkt der Spanne betrachtet – größer oder kleiner, breiter oder schmaler – und damit alle Tiefe von der Bildfläche verschwinden lässt….Wir können jetzt zwei weitere einfache Dimensionen einführen: Veränderungen in der Horizontalen werde ich Translation nennen (dazu das Verb transferieren), und Veränderungen in der vertikalen Dimension nenne ich Transformation. Die Agenz eines Holons transferiert die Welt gemäß dem Regime oder Kodex dieses Holons: Es reagiert nur auf das, was es erkennen und registrieren kann, das heißt auf das, was zu seinem Kodex passt. Ein Elektron beispielsweise registriert alle möglichen anderen Kräfte, reagiert jedoch auf nichts, wofür es keine entsprechenden Anlagen hat, auf Literatur zum Beispiel.
…Ihre Reaktion auf das, was »da draußen« vorgeht, ist niemals einfach Korrespondenz; sie registrieren und beantworten nur das, was ihrem Regime oder ihrer Tiefenstruktur entspricht. Deswegen sagt Varela, dass HoIons nicht »heteronome Einheiten« sind, die »einer Logik der Korrespondenz« folgen, sondern relativ »autonome Einheiten«, die »einer Logik der Kohärenz« folgen. Holons transferieren ihre Wirklichkeit gemäß den Mustern ihrer Agenz, ihrer relativ autonomen und kohärenten Tiefenstrukturen, und Reize, die nicht zur Tiefenstruktur passen, werden einfach nicht registriert, so als existierten sie nicht (und sie existieren für dieses Holon auch wirklich nicht; sie erschließen sich ihm nicht). Bei der Transformation dagegen emergieren neue Formen der Agenz und das bedeutet, dass dem neu entstehenden Holon ganze Welten bereits existierender Reize zugänglich werden. Das neue Holon kann auf tiefere oder höhere Welten reagieren, weil seine Translationsmöglichkeiten die seiner Unterholons transzendieren und einschließen.
Ein Tier registriert physikalische Einwirkungen und reagiert entsprechend, aber es reagiert auch auf allerlei biologische Kräfte wie Hunger, Schmerz und Sexualtrieb, die auf die Atome, aus denen es besteht, keinerlei Eindruck machen. Für ein Atom sind solche Kräfte buchstäblich überweltlich oder außerweltlich – nicht in seiner Welt. Deshalb erschließen sich durch Transformation oder Transzendenz ganze neue Welten der Translation. Aber diese »neuen Welten« sind natürlich nichts weiter als ein tieferes Wahrnehmen oder Registrieren der immer schon vorhandenen Welt. Es sind für untergeordnete Holons in der Tat andere oder vielmehr nichtexistente Welten, aber sie erschließen sich durch Transformation oder Selbsttranszendenz und werden dadurch »diese Welt«. Vom Regime oder der Tiefenstruktur eines Holons hängt also ab, von welcher Bandbreite seine Translationsmöglichkeiten sind, auf welche Arten von Welten es reagieren kann.
Wir sagten bereits, dass ein Holon aufgrund seines Identitätsmusters stabil ist – durch das also, was wir relative Autonomie, Kodex, Kanon, Regime, Entelechie, morphische Einheit oder ganz allgemein Tiefenstruktur nennen. Zum Beispiel hat der menschliche Körper 208 Knochen, ein Herz, zwei Lungenflügel und so weiter, überall auf der Welt. Aber der Umgang mit diesem Körper etwa in Spiel, Arbeit und Sexualität ist von Kultur zu Kultur verschieden. Diese Variationsbreite innerhalb der Tiefenstruktur werde ich als Oberflächenstrukturen bezeichnen….Translation ist Veränderung in der Oberflächenstruktur (horizontal), und Transformation ist Veränderung in der Tiefenstruktur (vertikal). (Die Beziehungen zwischen Tiefenstrukturen und Oberflächenstrukturen werde ich Transkription nennen;…). Im Bild des dreistöckigen Hauses entsprechen die Dimensionen den Geschossen (= Tiefenstruktur) und den Möbeln eines Geschosses (= Oberflächenstruktur). Hierin bedeutet das Umstellen der Möbel eines Geschosses eine Translation und das Aufsuchen eines anderen Stockwerks eine Transformation. Die Beziehung zwischen einem Geschoss und seinem Mobiliar ist Transkription.